Der Suizid des Torwarts Robert Enke 2009 war für sein Umfeld und Mediziner Anlass, gezielt etwas für die psychiatrische und psychotherapeutische Betreuung von Sportlern zu unternehmen. Seither widmet sich die Sportpsychiatrie den besonderen Bedürfnissen von Sportlern während und nach ihrer Laufbahn, sowie der Erforschung von vielfältigen Zusammenhängen zwischen Sport und psychischen Erkrankungen.
Mitglieder der DGPPN erhalten den DGPPN-Qualifikationsnachweis "Sportpsychiatrie und -psychotherapie" bei erfolgreicher Teilnahme an dem jährlich angebotenen Workshop des Referats sowie als Facharzt bzw. psychologischer Psychotherapeut.
Fragen an Dr. Karsten Henkel, verantwortlicher Oberarzt und Leiter der sportpsychiatrischen Sprechstunde der Uniklinik RWTH Aachen.
esanum: Herr Dr. Henkel, Sie haben zusammen mit Kollegen vor einigen Jahren eine sportpsychiatrische Ambulanz an der Uniklinik in Aachen gegründet – wie kam es dazu?
Henkel: Initiiert wurde das Ganze in Folge des Suizids von Robert Enke 2009. Damals haben sich Theresa Enke, seine hinterbliebene Ehefrau, der DFB, die Deutsche Fußballliga, Hannover 96 und andere zusammengesetzt und die Robert-Enke-Stiftung gegründet. Parallel hat die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, die DGPPN, ein Referat für Sportpsychiatrie und -psychotherapie gegründet. In der Folge wurden Zentren für Seelische Gesundheit im Sport formiert. Inzwischen gibt es zehn solcher Zentren in Deutschland. Auch in Österreich und in der Schweiz gibt es zwei universitäre Zentren. Im Verlauf sind auch Sprechstunden an nicht-universitären Krankenhäusern sowie ein Netzwerk niedergelassener Sportpsychiater und -psychotherpeuten, das bis in die Niederlande reicht, entstanden.
esanum: Warum brauchen Sportler eine besondere psychiatrische Behandlung?
Henkel: Psychische Erkrankungen im Sport weisen einige Besonderheiten auf. Zum Beispiel stehen bei der Depression häufig die körperlichen Symptome im Vordergrund, während die eigentlichen psychischen Symptome oft nicht registriert werden. Sportler sind es gewohnt, Erschöpfung, Schmerzen, Muskelkater zu erdulden. Sie setzen im Training einen starken Trainingsreiz, um die Leistung zu steigern. Sie müssen immer wieder über bestimmte Limits hinausgehen, damit der Körper sich entsprechend adaptiert. Erschöpfung und Ermüdung ist daher deren Alltag. Was dabei passieren kann, ist ein Übertrainingssyndrom, wobei die Erholungsphasen länger und der Schlaf schlechter werden. Da gibt es Überschneidungen zu depressiven Symptomen. Wann das in eine Krankheit übergeht, ist für die Betroffenen schwer zu erkennen. Oft fällt es erst Trainern oder anderen auf, die sich dann Beratung suchen oder dem Sportler sagen, er möge sich professionelle Hilfe holen. Dennoch sind Trainer und Mannschaftsbetreuer zunächst naturgemäß eher daran interessiert, dass die Leistung gesteigert wird und nicht, dass der Sportler eine Pause einlegt.
Sportler gehen oft in frühen Jahren aus ihrem familiären Umfeld heraus, verwenden sehr viel Zeit für den Sport, haben wenig Freizeit und Ausgleich. Schwierig wird es dann, wenn Übergänge nicht klappen, zum Beispiel vom Jugendbereich in den Erwachsenenbereich, wenn einer im Kader nicht aufgestellt wird, wenn Verletzungen auftreten. Dann fehlt der Kontakt zu den anderen Sportlern, der Ausgleich des Sports fällt weg. Es gibt Untersuchungen, die die Rolle von Verletzungen bei der Entwicklung einer Depression belegen. Viele Vereine haben ja Sportpsychologen, die sich um das seelische Gleichgewicht kümmern. Das kann aber nicht immer verhindern, dass es zu einer Verschlechterung der Situation kommt, sodass die Grenze zu einer Erkrankung überschritten wird. Und das sollte frühzeitig erkannt werden, damit eine adäquate Behandlung erfolgt durch Fachleute für psychische Erkrankungen. Auch z.B. Essstörungen, sowie Angststörungen haben eine besondere Ausprägung im Sport.
esanum: Wer sind Ihre Patienten?
Henkel: Alle möglichen Sportler. Auch Personen aus dem Umfeld des Sports, zum Beispiel Trainer und ehemalige Leistungssportler, die erst später mit spezifischen Folgen zu tun haben. Wir wissen z.B., dass es durch häufige Schädelprellungen über die Jahre hinweg zu Hirnveränderungen kommen kann, die zu Depressionen und zur Suizidalität führen können. Solche Dinge untersuchen wir auch wissenschaftlich. Ein anderes Thema sind Athleten, die eine Ausnahmegenehmigung wegen der Dopingbestimmungen brauchen, damit sie bestimmte Medikamente nehmen dürfen, zum Beispiel Patienten mit ADHS.
esanum: Welche psychiatrischen Probleme und Erkrankungen finden Sie bei Sportlern gehäuft?
Henkel: Depressionen an erster Stelle, Angststörungen, verbunden mit der Sorge, den Sport nicht weiter ausüben zu können – beides tritt häufig kombiniert auf. Und viele Essstörungen bei Sportlern, die ein bestimmtes Gewicht halten müssen, weil sie in bestimmten Gewichtsklassen trainieren, wie zum Beispiel Kampfsportler. Oder Sportler aus den ästhetischen Sportarten, wie Eiskunstlauf oder Tanz. Aber auch bei Leichtathleten wie Hochspringern zählt jedes Kilo. Nicht essen zu können, um sich wohl zu fühlen, sondern danach, wie es der Sport verlangt oder der Trainer kann zu Essstörungen führen und das kann wiederum in eine Depression übergehen.
Es gibt auch das Phänomen, dass Menschen, die gar keine professionellen Leistungssportler sind, jeden Tag der Woche 20 Kilometer und mehr rennen und an Ultra- und Mehrfachmarathons oder –triathlons teilnehmen. Einige beginnen damit erst in der vierten oder fünften Lebensdekade - damit gehen manchmal Anorexie und Sportsucht einher. Sportsüchtige laufen auch noch mit Verletzungen wie gebrochenem Mittelfußknochen weiter.
esanum: Was sind die besonderen Risiken für Sportler, psychisch zu erkranken?
Henkel: Psychische Probleme häufen sich oft bei Karriereende der Sportler. Wenn jemand die ersten drei Lebensjahrzehnte ganz dem Sport gewidmet, Familie, Freunde, Berufsausbildung deswegen vernachlässigt hat - und dann irgendwann diese Spitzenleistungen nicht mehr erbringt, wird es sehr schwierig. Wer aktiv im Sport und damit erfolgreich ist, hat nicht unbedingt eine erhöhte Gefahr für eine psychische Erkrankung – aber das Risiko ist auch nicht niedriger als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Wenn 20 Prozent der Deutschen einmal im Leben eine depressive Episode erleben, finden wir das natürlich auch im Sport. Eine besondere Schwierigkeit besteht für Sportler darin, die Krankheit zu erkennen und die passende Versorgung zu finden. Trainingspläne verhindern, sich in eine Praxis zu begeben, ebenso wie eine erhöhte Reisetätigkeit. Da braucht es eben eine besondere Versorgungsstruktur. Die versuchen wir zu bieten, ebenso wie das Verständnis für die besondere Situation und Bedürfnisse des Sportlers.
esanum: Wie gehen Sie bei der Therapie vor?
Henkel: Das läuft ganz ähnlich wie bei allen psychischen Erkrankungen. Psychotherapie - in der Gruppe oder auch einzeln - zum einen. Manche können auch in Gruppen mit Nichtsportlern eingebunden werden. Aber natürlich nehmen wir beispielsweise Rücksicht auf einen Sportler mit Anorexie, der passt nicht in die Normal-Gruppe, die sich weniger bewegen soll, um zuzunehmen. Und selbstverständlich gibt es auch einen Bedarf an Pharmakotherapie, besonders bei mittelschweren und schweren Depressionen. Da muss man sich auskennen, welche Medikamente gut verträglich sind, um weiter Sport machen zu können oder wo es Schwierigkeiten mit Dopingbestimmungen gibt.
esanum: Welche besondere Qualifikation braucht eine Ärztin, ein Arzt, um in der Sportpsychiatrie zu arbeiten?
Henkel: Jeder Facharzt darf Sportler behandeln. Aber es gibt bestimmte Dinge, die man wissen muss aus dem Sport. Das Referat Sportpsychiatrie und –psychotherapie der DGPPN veranstaltet einmal im Jahr einen Workshop. Insgesamt hat das Referat knapp 80 Mitglieder. Wir treffen uns regelmäßig und haben ein Curriculum dazu erarbeitet, welche Themen essentiell sind. Hinzu kommen regelmäßig wissenschaftliche Symposien auf den Psychiatriefachtagungen. Wir sind im engen Austausch mit Sportärzten und Sportpsychologen. Doch in gewisser Weise ist es auch weiterhin eine Pionierarbeit.
esanum: Was macht die Forschung auf diesem speziellen Gebiet?
Henkel: Derzeit steckt das Fachgebiet noch in den Kinderschuhen. Die Forschung in dem Bereich wird ja so intensiv erst seit gut zehn Jahren betrieben. Wir beschäftigen uns aber nicht ausschließlich mit der Frage, wie behandeln wir Leistungssportler, sondern auch mit der Frage: wie wirkt Sport bei psychischen Erkrankungen? Dieser Frage gehen Wissenschaftler weltweit nach. Wir wissen zum Beispiel, dass Sport sehr hilfreich ist bei der Behandlung von Depressionen, aber auch bei Psychosen, Demenz, Suchterkrankungen und Angststörungen. Das läuft über die Ausschüttung von bestimmten Nervenwachstumsfaktoren. Diese werden durch Sport vermehrt produziert und zum Gehirn transportiert, was zu einer Größenzunahme von bestimmten Arealen führt, dem Hippocampus beispielsweise.
esanum: Welchen Sportbereich haben Sie derzeit vor allem im Blick?
Henkel: Durch unsere Kontakte zur Robert-Enke-Stiftung und unsere Telefonhotline, bei der sich Sportler mit Problemen melden können, die ebenfalls von der Robert-Enke-Stiftung unterstützt wird, haben wir besonders viel mit dem Fußball zu tun. Also spielt der Kontext von Fußball und Depression eine wesentliche Rolle. Aber wir kümmern uns auch um Eishockeyspieler, Leichtathleten, Reiter, Kampfsportler.
esanum: Wer unterstützt Ihre Arbeit?
Henkel: Wir arbeiten v.a. eng mit der Robert-Enke-Stiftung zusammen. Ihr Anliegen ist es ebenso wie unseres, dass es eine Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen gibt. Es ist schwierig für einen Sportler, sich zu einer psychischen Erkrankung zu bekennen, wenn er glaubt, immer stark und erfolgreich sein zu müssen. Deswegen ist es so wichtig, dass sich Sportler dazu bekennen, dass sie eine psychische Störung hatten und ihnen geholfen wurde. Ein Beispiel ist der ehemalige Torwart Markus Miller von Hannover 96, der ganz offen mit seiner Depression umgegangen und wieder komplett leistungsfähig geworden ist. Oder Martin Amedick von Eintracht Frankfurt, der seine Krankheit öffentlich gemacht hat. Genauso ist der Trainer und Manager Ralf Rangnick mit seinem Burnout ganz offen umgegangen. Ob es wirklich sinnvoll ist, schon während der aktiven Karriere über eigene psychische Erkrankungen zu berichten, muss jeder Sportler selbst für sich entscheiden. Aber irgendwann darüber zu sprechen, hilft Betroffenen und macht Mut, sich Hilfe zu suchen und die Krisen durch Behandlung zu überwinden.