Rund 80% der Seltenen Erkrankungen haben ihren Ursprung in Mutationen eines einzigen Gens. Hier setzt die Genommedizin an: Mittels der Gen-Sequenzierung können Diagnostik und Therapie erleichtert und beschleunigt werden. Nicht nur Expertinnen und Experten aus Medizin und Wissenschaft, sondern auch Betroffene setzen viel Hoffnung in moderne Methoden der Genmedizin. Seit ungefähr zehn Jahren ist die Gen-Sequenzierung so weit fortgeschritten, dass sie als Gamechanger in der Diagnostik gilt, auch wenn immer noch erst bei einem Drittel der Seltenen Erkrankungen eine Diagnose gestellt werden kann, erklärt Prof. Stefan Mundlos, Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik an der Charité.
Sebastian C. Semler, unter anderem Verbundkoordinator der Initiative genomDE, machte auf der Tagesspiegelveranstaltung in seiner Keynote deutlich, dass durch die Gen-Sequenzierung nicht nur mehr Optionen bei Diagnose und Therapie zur Verfügung stehen, sondern auch viele unnötigerweise verordnete Therapien erkannt und abgesetzt werden können. So kann – ganz im Sinne der individualisierten Medizin – neben dem richtigen Wirkstoff auch die passende Dosierung für Patientinnen und Patienten identifiziert werden.
Damit die Daten, die durch die Gensequenzierung gewonnen werden können, auch entsprechend analysiert werden können, müssen Abgleiche mit Datenbanken erfolgen. Für dieses Vorhaben ist eine entsprechende Infrastruktur notwendig, die es ermöglicht, klinische Daten sowie Sequenzierungsdaten miteinander abzugleichen. Dafür setzt sich die Initiative genomDE seit einigen Jahren ein. Gerade ist der Aufbau von Genomdatenbanken im Gange, die sich auch miteinander verknüpfen lassen, sodass sich perspektivisch der volle Nutzen einer Sequenzierung entfaltet. Mittels integrativer Konzepte für Gesundheitsdaten ließen sich solche Projekte nicht nur im Rahmen Seltener Erkrankungen realisieren.
Zwar bietet die Genommedizin zahlreiche Chancen, was die Diagnose und Therapie Seltener Erkrankungen angeht, jedoch birgt sie auch einige Herausforderungen, unter anderem auf ethischer Ebene. Prof. Eva Winkler, Heisenberg-Professorin für Translationale Medizinethik an der Universität Heidelberg, stellte auf dem Dialogforum vier Fragen, die essentiell bei der ethischen Bewertung von Genommedizin sind.
Hier muss laut Winkler Betroffenen die Möglichkeiten gegeben werden, selbst zu reflektieren. So muss im Vorhinein einer Gen-Sequenzierung geklärt werden, ob der Patient über die Ergebnisse aufgeklärt werden will, wenn die Erkrankung beispielsweise nicht behandelbar ist. Außerdem kann die Eintrittswahrscheinlichkeit sowie die Schwere der Erkrankung ausschlaggebend dafür sein, ob die zu untersuchende Person über die Ergebnisse informiert werden möchte oder nicht. Außerdem spielt die Evidenz der Untersuchung sowie das Autonomieverständnis der Einzelnen (Wie viel Wissen tut mir gut) eine zentrale Rolle. Menschen gewichten all diese Gründe unterschiedlich, und genau daraus resultiert das Recht auf Nicht-Wissen im Bereich der Genommedizin. Von behandelnden Ärzten und Ärztinnen sind diese individuellen Präferenzen zu respektieren.
Gerade im komplexen Rahmen der Genommedizin ist eine verständliche Aufklärung essentiell. Diese kann häufig durch multimediale Formate greifbarer für Betroffene gemacht werden. Außerdem muss diese verständliche und umfassende Aufklärung vor einer Testung geschehen, im Idealfall werden Familien auch aufgeklärt. Denn, wie Prof. Mundlos betont, sei der Kern einer genetischen Untersuchung, dass man sich damit nicht nur selbst analysiert.
“Wenn ich mich sequenzieren lasse, betrifft das auch indirekt den Rest meiner Familie und Verwandtschaft.”
Das Projekt EURAT (Ethische und Rechtliche Aspekte der Totalgenomsequenzierung) greift Behandelnden bei diesen ethisch sensiblen Themen unter die Arme: Neben Mustertexten für die Patientenaufklärung finden Ärztinnen und Ärzte dort auch Vorlagen für die Rückmeldung genetischer Befunde sowie einen Verhaltenskodex für Forschende.
Gerade Gesundheitsdaten sind von besonders sensibler Natur. Wenn diese nun in Datenbanken eingespeist werden, um die Forschung voranzutreiben, ist es natürlich essenziell, dass diese entsprechend gesichert werden. Doch da das menschliche Genom einzigartig ist, ist eine Reidentifizierung in Einzelfällen durch die Rückverfolgung von längeren Abschnitten des Genoms durchaus möglich.
Winkler merkt an, dass die Genommedizin mit zwei unterschiedlichen ethischen Prinzipien gesehen werden muss: zum einen die ärztliche Ethik, die auf Vertraulichkeit, Datenschutz, und einer Behandlung lege artis beruht. Zum anderen gibt es die Forschungsethik, die auf Erkenntnisgewinn, Transparenz und guter wissenschaftlicher Praxis basiert. Es gilt also, die Balance zwischen Governance und Autonomie zu halten, um so eine Vertrauensarchitetur für Genomdaten zu schaffen.
Diese Frage beantwortet Winkler klar mit einem Nein. Momentan ist die Methode der Gen-Sequenzierung sehr teuer und eine Auswertung aufgrund einer bestimmter Mindestanzahl an Proben in Messgeräten langwierig, weswegen es noch viel Luft nach oben gibt hinsichtlich eines bedarfsgerechten Zugangs zur Genommedizin.
Abschließend halten die Expertinnen und Experten, sei es aus Wissenschaft, Patientenvertretung oder Medizinethik, ein Plädoyer für mehr Awareness im Bereich Seltene Erkrankungen. Auch Primärversorger, also im Regelfall niedergelassene Hausärzte, sollten sich bewusst sein, dass bei komplexen und chronischen Symptomen eine Seltene Erkrankung die Ursache sein kann und im Zweifel an entsprechend spezialisierte Zentren verweisen.
Auch wenn es unter Umständen keine Therapie für eine identifizierte Seltene Erkrankung gibt, ist eine Diagnosestellung dennoch essenziell. Für Betroffene wie auch Angehörige kann Klarheit über eine Erkrankung nicht nur neue Hoffnung im Krankheitsmanagement, sondern auch Gewissheit über mögliche weitere Erkrankungen im familiären Umfeld geben. Die Referierenden auf dem Forum hoffen auf eine Steigerung der ärztlichen Beratungskapazität, sowie die baldige Etablierung einer Vertrauensarchitektur, die es erlaubt, Gesundheitsdaten weitreichend zu teilen. Durch gelebte Vernetzung unter verschiedenen Stakeholdern wäre dies möglich.
Weitere Informationen rund um das Thema Seltene Erkrankungen finden Sie in unserem Themenspecial zum Rare Disease Day.