Die Identitätsfindung ist ein Thema, das wahrscheinlich jeden Menschen von der Geburt an bis zu ihrem/seinem Tod beschäftigt hat und wird: "Wer bin ich, wie sehe ich mich selbst und wie nehmen mich meine Mitmenschen war?" sind die entscheidenden Fragen an das Selbst bei der Identitätsfindung. Die Definition des Selbst lautet hierbei wie folgt: "Es ist ein Konzeptsystem, das aus den Gedanken und Einstellungen über sich selbst besteht."1 Doch was bedeutet eigentlich der Begriff Identität? Die Wahrnehmung der eigenen Person als etwas Beständiges und auch im Laufe des Lebens Wandelbares zugleich steht hier im Mittelpunkt der Definition der Identität. Die innere Einheitlichkeit bleibt im Kern erhalten trotz möglicher äußerer Wandlungen, welche auf die Lebensgeschichte oder die jeweilige Umgebungssituation zurückzuführen sind. Die eigene Identität liegt in der Wahrnehmung des Individuums, denn nur das Individuum selbst weiß, wer sie/er ist. Die innere Einheitlichkeit und das Wissen über die eigene Identität stehen dem äußeren Erscheinungsbild gegenüber. Für den Menschen als soziales Wesen ist es wichtig, wie sie/er von der Außenwelt wahrgenommen wird. Sehen die Mitmenschen dieselbe Identität, die das Individuum in seinem Inneren als seine/ihre Identität wahrnimmt? Besteht eine Kongruenz oder eine Diskongruenz zwischen der eigenen Wahrnehmung und Wahrnehmung durch die Außenwelt?
Der Mensch hat das Bedürfnis, dass sich ihre/seine gefühlte geschlechtliche Identität in Kongruenz mit dem äußeren Geschlecht befindet. Es geht hierbei nicht in erster Linie um die Sexualität, sondern um das geschlechtliche Selbsterleben der eigenen Person. Wissenschaftliche Studien belegen, dass eine Geschlechtsdiskongruenz zu psychischen und körperlichen Erkrankungen führen kann. Geht die Wahrnehmung der eigenen Person durch die Außenwelt und die eigene Wahrnehmung zu weit auseinander, so kann dies mit einer enormen psychischen Belastung und der Förderung bestimmter schädlicher Verhaltensmuster einhergehen. In den USA leidet die Hälfte der Personen mit einer transgender, multi gender oder gender fluid Identität an Depressionen oder Angststörungen.2,3 Die Lebenszeitprävalenz für Suizidalität liegt bei Transfrauen und Transmännern bei 46%. Sie übertreffen damit cisgender Personen um den Faktor 11.4 Einer amerikanischen Studie aus Ontario zufolge liegt eine medizinische Unterversorgung bei rund 44% der Personen mit einer *trans oder *inter Lebensweise vor. Bei der gleichaltrigen cisgender Kontrollgruppe war dies bei lediglich rund 11% der Fall gewesen. Oft stehen Personen mit einer *trans oder *inter Lebensweise einer ganz bestimmten Problematik gegenüber: Es fehlt der behandelnden Ärztin/dem behandelnden an Fachkompetenz hinsichtlich medizinischen Transgender Themen.5-7
Eine in der renommierten Fachzeitschrift ,,The Lancet“ publizierte Studie hat nach Gründen für die psychologische Situation der Personen mit transgender, multi gender oder gender fluid Identität gesucht. Der Zustand der subjektiven Bedrängnis und Beeinträchtigung steht hierbei im Mittelpunkt. Dieser entsteht als Reaktion auf die Diskriminierung, die Stigmatisierung, die fehlende Akzeptanz, die Ablehnung und Misshandlung der betroffenen Personen, die sie regelmäßig im Alltag zu spüren bekommen. Die Diskriminierung einer Person verändert deren Verhaltensmuster. Die inter* und trans* Personen befinden sich in einem Zustand erhöhter Vigilanz und körperlicher Stressreaktionen. Hierdurch werden risikobehaftetes Verhalten und eine Ablehnung gegenüber der eigenen Person gefördert. Diese psychische Belastung zeigt sich auch auf körperlicher Ebene: Der Cortisolspiegel kann ansteigen, der Gefäßwiderstand kann zunehmen, die Herz- und die Gedächtnisleistung kann abnehmen. Es besteht ein Risiko für einen verfrüht auftretenden Morbus Alzheimer. In den USA konsumieren 26% der Personen mit *trans oder *inter Lebensweise schädliche Substanzen. 33% leiden an Angsstörungen.8,9
Es ist unsere Aufgabe als Medizinerinnen und Mediziner dafür zu sorgen, dass Personen mit einer *trans und *inter Lebensweise vor Diskriminierung und Stigmatisierung im Gesundheitssystem bewahrt werden. Auch sollte eine gewisse fachliche Kompetenz für medizinische Transgender Themen durch regelmäßige Fortbildungen erlangt werden. Wenn wir allesamt aktiv gegen Diskriminierung und Stigmatisierung vorgehen und der Weg zur Transition erleichtert wird, könnte eines Tages die Prävalenz für Depression, Angststörung und Suizidalität bei Personen mit einer *trans oder *inter Lebensweise als Reaktion hierauf abnehmen.
Referenzen:
1. https://www.psy.lmu.de/epp/studium_lehre/lehrmaterialien/lehrmaterial_ss10/wintersemester1011/krimmel_vuori/seminar1/sitzung_8.pdf.
2. Budge S. L. et al. (2013). Anxiety and Depression in Transgender Individuals: The Roles of Transition Status, Loss, Social Support, and Coping. J. Consult. Clin. Psychol. 2013;81(3):545–557.
3. Nota N. M. et al. (2019). Evaluation and Treatment of Gender-Dysphoric/Gender Incongruent Adults. Endotext [Internet]. South Dartmouth (MA): MDText.com, Inc.; 2000-.
4. Weissman M. M. et al. (1999). Prevalence of suicide ideation and suicide attempts in nine countries. Psychol Med 1999;29(1):9-17.
5. Bauer G. R. et al. (2013). Suicidality among trans people in Ontario: implications for social work and social justice. Serv Soc Que 2013;59(1):35-62.
6. Bell J. et al. (2019). Trans individuals' experiences in primary care. Can Fam Physician. 2019;65(4):e147-e154.
7. Vermeir E. et al. (2018). Improving Healthcare Providers' Interactions with Trans Patients: Recommendations to Promote Cultural Competence. Healthc Policy. 2018;14(1):11-18.
8. The Lancet Public Health. (2020). Transgender health, identity, and dignity. Editorial, Vol. 5, Issue 4, E117.
9. Jamieson J. P. et al. (2012). Experiencing Discrimination Increases Risk-Taking, Anger, and Vigilance. Psychological Science 24 (2) (December 20): 131–139.