Das Problembewusstsein ist vorhanden: In der Medizin wird Geld und Zeit ausgegeben für Unnützes oder sogar Schädliches. PatientInnen sehen das laut einer Studie durchaus, allerdings nicht bei sich selbst.
Eine Mehrheit der Bevölkerung glaubt, dass bei ÄrztInnen in Deutschland oft überflüssige Untersuchungen und Behandlungen durchgeführt werden. Allerdings sieht kaum jemand das Problem bei sich selbst. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die Bertelsmann Stiftung in Gütersloh vorstellte. Demnach vermutet mehr als die Hälfte der Befragten (55%) in einer repräsentativen Umfrage unter mehr als 1.000 Menschen, dass Kliniken und Arztpraxen oft unnötige medizinische Leistungen erbringen.
Dass diese Überversorgung aber nicht sie selbst, sondern nur andere betrifft, äußerten PatientInnen und ÄrztInnen in begleitenden Interviews, die die WissenschaftlerInnen der Stiftung zusätzlich in Auftrag gegeben hatten. Das Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold führte Tiefeninterviews mit 24 PatientInnen und 15 ÄrztInnen.
Laut StudienautorInnen sind die Erwartungen und Einstellungen von Ärzteschaft sowie Behandelten das größte Problem. Ungewissheit sei nur schwer auszuhalten, sagen beide Seiten übereinstimmend. Deshalb entschieden sich viele lieber für eine Therapie, als abzuwarten. 56% der BürgerInnen waren dieser Meinung. Dadurch würden PatientInnen unbewusst unnötige Behandlungen einfordern. Nach dem Motto: Lieber nichts unentdeckt und unversucht lassen.
Als Beispiele für Überversorgung nennen die AutorInnen unnötig verschriebene Arzneimittel, aber auch Operationen. So würden in Deutschland jährlich 70.000 Schilddrüsen-OPs durchgeführt, obwohl es bei nur zehn Prozent dieser Eingriffe einen bösartigen Befund gibt. Ähnliche Werte nennt die Studie bei Eierstock-Operationen.
In Kanada, Australien oder den Niederlanden gibt es konkrete Maßnahmen, damit fragwürdige Leistungen aus dem Klinik- und Praxisalltag verschwinden. "Wir gehen davon aus, dass bis zu 30% der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern auf Überversorgung entfallen", sagte die Medizin-Professorin Wendy Levinson aus Kanada. Sie ist Gründerin und Leiterin der Bewegung Choosing Wisely International (laut Bertelsmann übersetzt "gemeinsam klug entscheiden").
Laut Bertelsmann Stiftung setzte sich die Gruppe für mehr Verantwortung seitens der ÄrztInnen gegen Überversorgung ein. "Das Konzept ist in anderen Ländern bereits erfolgreich eingeführt worden und findet immer mehr Beachtung. Auch in Deutschland sollte es im Sinne des Patientenwohls stärker unterstützt werden", sagte Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung.
Die StudienautorInnen sehen als Grund für eine Überversorgung eine Vielzahl von Faktoren. Entscheidend sei aber das Nebeneinander von ambulanten und zu vielen stationären Versorgungsstrukturen. "Aber auch die Art, wie Medizin in Deutschland gelehrt, geleistet und vergütet wird. So wird selbst falsches Handeln vergütet, nicht aber korrektes Unterlassen", hieß es in der Studie. Dagegen sei ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig. Außerdem müssten Nutzen und Risiken medizinischer Leistungen stärker verdeutlich werden. Und zwar durch Informationen für PatientInnen und ÄrztInnen.