Große Instrumente zur Entfernung von Harnsteinen, historische Schriften oder ein 28.000 Jahre alter Phallus: Museum, Bibliothek und Archiv im Haus der Urologie in Berlin-Zehlendorf zeigen seltene Schätze und Kuriosa aus der Geschichte und Kultur der Urologie. PD. Dr. Friedrich Moll, Kurator des Museums der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V., gibt in diesem Interview ungewöhnliche Einblicke in das Fach.
Die Dokumentation von Erkrankungen im Uro-Genitalbereich und deren Behandlung lässt sich weit zurückverfolgen, wenn auch manchmal eine retrospektive Diagnose anhand von Schriften oder Bildquellen schwierig ist. Fest steht, Harnsteine und auch die Beschneidung lassen sich bereits bei ägyptischen Mumien nachweisen. Die Verabreichung von potenzfördernden Mitteln reicht noch früher bis in die Zeit der Priester-Ärzte zurück.
In der Tat war die Behandlung eines Wasserbruches, einer Hydrozele, nur durch Punktion möglich, die jedoch entfernt vom Hoden gesetzt werden musste und damit schon eine gute Fingerfertigkeit, gerade in der voranästhetischen Zeit voraussetzte.
"Spanische Fliegen", Canthariden der Gattung Lytta vesicatoria, waren bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gängige Aphrodisiaka, die in Apotheken angeboten wurden. Sie sind ein starkes Reiz- und Nervengift, wodurch es als Wehrsekret in der Tierwelt sehr effektiv ist. Auf der Haut und vor allem auf den Schleimhäuten des Menschen übt es eine starke Reizwirkung aus. Beim Menschen und bei anderen Wirbeltieren löst das enthaltende Gift die Bildung von Blasen und teilweise tiefen Hautwunden aus. Außerdem führt es zu Entzündungen und insbesondere zu einer starken Schädigung der Nieren. Letztere tritt vor allem bei Missbrauch, etwa bei übermäßiger Einnahme als Aphrodisiakum, auf.
Gerade, da es sich um ein Naturprodukt handelt, war eine Dosierung immer schwierig. Heute kann die Urologie ihren Patienten deutlich sicherer zu dosierende Medikamente anbieten, deren Einführung vor über 20 Jahren auch schon zur Geschichte gerinnt.
Die "Impotenz–Gürtel" oder "Heidelberg Belts" gehören zu den besonders in den USA stark nachgefragten "Universalheilmitteln" bei sexueller Neurasthenie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Neurasthenie war eher eine Modediagnose am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nachdem man die Nervenleitung als elektrische Impulse beschrieben hatte und man sich durch Elektrizität in diesem Organbereich eine besondere Therapiemöglichkeit erhoffte. Da dieser Erkrankungskomplex auch mit männlichem Unvermögen assoziiert wurde, erhoffte man sich hier eine moderne Therapieform. Die Diagnose "sexuelle Neurasthenie" bot darüber hinaus zu Zeiten einer doch prüden Gesellschaft die Möglichkeit, über Sexualität, Liebe und Ehe überhaupt zu sprechen und fachlichen Rat einzuholen. Die mannigfachen von Laien, Medizinern und Urologen verfassten "Aufklärungsschriften" veranschaulichen die riesige Breite dieses Gebietes bis in die 1920er Jahre.
Eine einfache und zugleich schwierige Frage für den Museumsfachmann, da ja alle Objekte eine eigene Geschichte erzählen, sei es ein Steinschnitt-Besteck, das ein bayrischer Urologen seinerzeit wegen seiner Verdienste und langjährigen Tätigkeit vom Bayrischen Prinzregenten erhielt und das die Bedeutung und das Ansehen des sich gerade entwickelnden "neuen" Arztspezialberufes unterstreicht. Aus Sicht der medizinischen Fachgesellschaft sind es wenige, optisch spektakuläre Schriftstücke, die die Gründung im Jahre 1907 dem "Preußischen Minister der Geistlichen-Kultus und Medizinalangelegenheiten" anzeigen. Für den Besucher besonders beeindruckend ist sicherlich das große Set zur "blinden" – modern ausgedrückt – "minimal invasiven Behandlung von Blasensteinen", das von einem zu seiner Zeit sehr bekannten Pariser Instrumentenmacher um 1830 angefertigt wurde. Für den Wissenschaftshistoriker sind es u. a. unsere exquisiten Stiche, die einen Querschnitt aus mehreren Jahrhunderten der Fachentwicklung dokumentieren und die Sicht auf die Erkrankung und den Patienten visualisieren. Im Archiv sind es die eher unscheinbaren Konvolute, die urologischen Alltag auf vielfältigen Ebenen beschreiben.
Bei dieser Frage können bei der Planung von Ausstellungen auch einmal die Ansichten von Kurator und Kustos auseinandergehen. Während der Kurator eher die fachkonstituierenden Artefakte fokussiert, sind unter kustodialen Gesichtspunkten häufig die kleineren, unscheinbareren Objekte im Mittelpunkt, da diese oft starke, spannende Geschichte von Urologen als Sammlern oder Patientengeschichten multidimensional erzählen.
Was uns heute als sonderbar oder verschroben erscheint, war häufig unter anderen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen und kulturellen Vorzeichen gängig, häufig und populär. Wir sollten daher vorsichtig sein, mit unserem heutigen Blick historische Diagnosen und Behandlungen zu interpretieren, denn das hieße immer einen anderen Betrachtungshorizont einzunehmen.
Betrachtet man Artefakte unter dem Aspekt der Besonderheit oder Einzigartigkeit sind es nach meiner Überzeugung die römischen Spintriae/tesserae, die zurzeit vor allem als Spiel- und als Bordellmarken gedeutet werden und unseren modernen Jetons entsprechen dürften. Kontinuitäten seit mehr als 2000 Jahren!
Dies kann man eindeutig mit Ja beantworten, wobei dieser Aspekt gerade von französischen Historikern gerne bei Napoleon III bemüht wird. Napoleon III litt an einem Blasenstein und hier ist eine retrospektive Diagnose ausnahmsweise möglich, da die Steine noch heute in London archiviert sind. Der Herrscher verlor eine wichtige Schlacht, da der Einsatzbefehl zu spät gegeben wurde. Dies ermöglichte jeweils der preußischen Armee einen gewissen Vorsprung in der Schlachtaufstellung, was französische Historiker den Fieberschüben des Herrschers bei der Schlacht zuschrieben.
Wie man aber weiß, führt ein Detail allein sicherlich nicht zu Sieg oder Niederlage bei einer Schlacht. Das Narrativ wird aber bis heute gerne in der national geprägten Literatur genutzt. Man sollte die Geschichte eher fachpolitisch erzählen. Obwohl Frankreich zu den frühen führenden Ländern mit einer sich spezialisierenden Urologie gehörte, wurde der Kaiser in diesem Bereich eher unterversorgt, was sicherlich suboptimal war und nicht den fachlichen Möglichkeiten zu seiner Zeit entsprach. Paris war im 19. Jahrhundert ein Mekka zur Weiterbildung in der Spezialität Urologie. Der Franzose Napoleon III wurde im Exil in England von einem Briten operiert. Nationale Gegensätze prägten die Politik im 19. Jahrhundert wesentlich.
Es fällt mir schwer, die Entwicklung als Fortschrittsgeschichte zu beschreiben, wie es "Old School"-Medizinhistoriker und manche Urologen in Handbuchbeiträgen häufig bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts taten. Diese Sichtweise ist heute verlassen und gilt als unwissenschaftlich.
Urologen und Proto-Urologen haben sich früh auf ausgesuchte, mit dem Harntrakt verbundene Erkrankungen spezialisiert und damit die Brücke von der handwerklichen zur naturwissenschaftlichen Ausbildung schlagen können. Bereits die alten Medizinalordnungen deutscher Fürstentümer erwähnten und regelten Steinschneider bzw. "Lithotomisten" in ihrer Berufsausübung und auch Liquidation separat. Dr. Eisenbarth oder Frère Jacques sind gerade aufgrund ihrer für ihren Zeitraum niedrigen Operationsletalität in der allgemeinen Erinnerungskultur erhalten geblieben, auch wenn sie im 19. Jahrhundert teils als ungebildet und roh beschrieben wurden.
Urologen haben ein minimal invasives Vorgehen schon sehr früh im 19. Jahrhundert favorisiert, da sie hiermit deutlich messbare und statistisch auswertbare Überlebensvorteile bei ihren Eingriffen besaßen. Durch die Beschränkung auf ein Organsystem konnten Urologen, wie schon ausgeführt, viel früher als andere medizinische Fachgebiete ein funktionelles Denken in ihrem Wissenschaftsbereich einführen, was ihnen ein besseres Verständnis von Zusammenhängen von Körperfunktionen ermöglichte. Aufgrund ihrer Interdisziplinarität, das Fachgebiet speiste sich aus offen-operativ am Harntrakt Interessierten, Endoskopikern, Sexualmedizinern, Dermatologen, an den allgemeinen Nierenerkrankungen Interessierten und dem weiblichen Harntrakt Interessierten, konnte sich eine Fachdisziplin entwickeln, die auch heute zu besonders vielen Bereichen der medizinischen Wissenschaften anschlussfähig ist und neue Forschungsfragen generieren kann. Somit wurde das, was Sie als Fortschritt bezeichnen in jeder Generation neu generiert und fortgeschrieben.
Nachdem die wissenschaftshistorische Ausstellung 2020 dem Publikum leider "nur" virtuell präsentiert werden konnte, hoffen wir 2021 in Stuttgart wieder "live" dabei sein zu können und entsprechend dem Kongress-Motto eUrologie und dem Kongress-Standort Stuttgart unseren Besuchern, Freunden und Förderern eine Kollektion von Objekten zur Entwicklung der süddeutschen Urologie sowie zur Wissenskommunikation zu präsentieren.
Weiterhin wollen wir auf unsere Spender blicken, die uns Material in vielfältiger Form von Schriftstücken bis Filmen, von Instrumenten bis Ephemera dankenswerter Weise überlassen haben. Denn ohne unsere Spender wäre dies alles nicht möglich geworden.