Eine Marburger Krankenschwester soll mehreren Neugeborenen unerlaubt Medikamente verabreicht haben. Viele Fragen in dem Fall sind noch offen, die nun das Landgericht Marburg in einem Mammutverfahren klären muss. Auch, ob es vielleicht doch um Mord geht.
Drei Babys liegen auf der Frühchenstation der Marburger Uni-Klinik. Ein ohnehin schwerer Start ins Leben - den ihnen ausgerechnet eine Kinderkrankenschwester noch schwerer gemacht haben soll. Die Staatsanwaltschaft wirft der 29-Jährigen vor, die Frühchen mit Medikamenten vergiftet und in Lebensgefahr gebracht zu haben. Nun steht die Frau wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen vor dem Landgericht Marburg.
Die 29-jährige Deutsche soll vier Taten zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 begangen haben. Die Opfer waren der Anklage zufolge drei frühgeborene Mädchen, die teils erst wenige Tage auf der Welt waren. Ein Kind soll von zwei Übergriffen betroffen gewesen sein. Während ihres Nachtdienstes soll die 29-Jährige den Kindern Narkose- und Beruhigungsmittel verabreicht haben, die weder verordnet noch medizinisch notwendig waren. Dadurch soll es bei den Kleinen jeweils zu "akut lebensbedrohlichen Situationen gekommen sein", erläutert die Anklagevertreterin zu Beginn des Prozesses am Donnerstag.
Den Kindern ging es demnach rasch schlechter, sie gerieten teils in einen "komatösen Zustand" und benötigten eine Herzdruckmassage. Ein Kind erlitt mehrere Herzstillstände und musste wiederbelebt werden. Die Angeklagte soll teils Hilfe geholt oder helfend eingegriffen, sonst aber keine "aktiven Rettungsbemühungen" gezeigt haben.
Die Kinder überlebten. Ein Baby, die kleine Leni, aber nur wenige Tage. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist sie nicht wegen der Arzneien gestorben - was die als Nebenkläger auftretenden Eltern bezweifeln. Ihre Rechtsanwältinnen wollen daher eine Verurteilung der Angeklagten wegen vollendeten Mordes erreichen. Sie gehen davon aus, dass die Medikamentengabe sehr wohl die Ursache für den Tod des Babys war. Dadurch sei es zu einer Gesundheitsverschlechterung bei dem Mädchen gekommen, von dem es sich nicht mehr erholt habe.
Kollegen der mittlerweile Ex-Krankenschwester wurden Anfang Februar 2016 misstrauisch. Nachdem der erste Verdacht aufgetaucht sei, sei sofort die Polizei eingeschaltet worden, teilte das Uni-Klinikum Gießen-Marburg mit. "In enger Abstimmung mit den Ermittlungsbehörden sind wir damals allen Hinweisen nachgegangen, um zu einer schnellen und vollumfänglichen Aufklärung beizutragen." Dazu gehörten auch umfangreiche Recherchen im medizinischen Archiv, bei denen sich die zwei weiteren Verdachtsfälle ergeben hätten. Von dem Prozess erhofft sich die Klinik eine "rückkaltlose" Aufklärung der Geschehnisse.
Die Angeklagte wird dazu zumindest derzeit nichts beitragen und "auf Anraten der Verteidigung" schweigen. Im Ermittlungsverfahren bestritt sie die Vorwürfe. So sitzt sie mit ihrem fliederfarbenen Shirt und den blonden Haaren still auf der Anklagebank, schüttelt nur hin und wieder den Kopf.
Zu derartigen Fällen auf Frühchenstationen kommt es nach Einschätzung des Kriminologen Jörg Kinzig nur selten: Ihm sei kein vergleichbarer Fall bekannt, sagt der Direktor des Instituts für Kriminologie an der Uni Tübingen. Das Entdeckungsrisiko solcher Taten sei auch hoch. "Wenn ein Kleinkind stirbt, wird viel sensibler hingeschaut als bei einem alten, kranken Patienten, der auf der Intensivstation stirbt."
Ähnlich sieht das Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden: "Wir haben in helfenden Berufen eine sehr kleine Anzahl von Personen, die denen, denen sie eigentlich helfen sollen, absichtlich Schaden zufügen." Dabei spielten zwei mögliche Motive eine Rolle: "Die Täter können sich wichtig machen und so versuchen, Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren. Denn sie sind es, die eine Verschlechterung bei den Patienten feststellen oder diese retten." Hinzu komme in seltenen Fällen, dass es angesichts der Hilflosigkeit der Patienten für manche verführend sei, die eigene Machtposition auszunutzen und zur Tat zu schreiten.
Das Landgericht Marburg wird den Fall der Frühchen-Krankenschwester voraussichtlich bis Februar 2020 verhandeln und zahlreiche Zeugen und Gutachter befragen. Eine schwere Zeit vor allem auch für die Familie der kleinen Leni: «Für die Eltern ist das natürlich eine wahnsinnige Belastung», sagt Anwältin Elke Edelmann. Nicht nur, weil sie den Tod ihres Kindes hinnehmen müssten. Sondern auch, weil dafür die Person, «der sie am meisten vertraut haben», verantwortlich