Stellen Sie sich vor, Ihr Patient leidet unter Höhenangst: Er kann keine Rolltreppen benutzen, keine Leiter hochsteigen und auch keine Brücke überqueren. Sobald er mit einer dieser Situationen konfrontiert ist, fangen seine Hände an zu schwitzen, er bekommt Herzklopfen, der Puls rast. Er fühlt sich benommen, schwindelig, kann viele Dinge im Alltag nicht bewältigen. Die Strategie der Wahl ist Vermeidung – bloß nicht in eine solche Lage geraten, versuchen zu antizipieren, was geschehen könnte, keine Überraschungen. Er passt seinen Alltag an die Phobie an und nimmt Einschränkungen in Kauf, um nur nicht dieser Angst ausgesetzt zu sein. Dennoch ist sein Leidensdruck hoch. Er wünscht sich, seine Angst loszuwerden.
Einen ähnlichen Fall beschreiben Polly Haselton und June Dent von Oxford VR, einem Ableger der University of Oxford. Im Rahmen einer Studie, die die neuesten immersiven Technologien im Bereich Virtual Reality nutzt, arbeiten sie mit Richard, einem pensionierten Rettungssanitäter, der sein Leben lang unter einer schweren Form von Höhenangst leidet. Davon betroffen ist nicht nur sein Privatleben; wird er zu Einsätzen in hohen Gebäuden gerufen, vermeidet er diese und erfindet Ausreden, warum er nicht zur Rettung der Personen fahren kann. Damit ist nicht nur sein eigenes Leben stark beeinträchtigt, sondern auch sein berufliches Umfeld ist mit betroffen - und besonders die Menschen, die auf seine Hilfe angewiesen sind.
Ein Video zeigt den Therapieverlauf. Im ersten Teil ist zu sehen, wie Richard in einem Einkaufszentrum versucht, in der ersten Etage etwa drei Meter Weg von der Wand hin zum metallgerahmten Glasgeländer zurückzulegen, von dem aus man in den Innenhof sehen kann. Richard atmet schwer, schwitzt, macht wenige Schritte, geht dann wieder zurück, wischt sich die Hände an der Jacke ab und schafft es schließlich bis zu einem Betonpfeiler, der das Geländer einfasst, an dem er sich festhalten kann. Sich an das Geländer zu stellen und hinabzublicken, ist ihm nicht möglich.
In den nächsten zwei Wochen erhält Richard an acht Terminen jeweils eine dreißigminütige Virtual Reality Therapie, die aus den Erkenntnissen der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt wurde. Richard wird von einem virtuellen Coach namens Nic durch das Programm geführt und muss verschiedene Aufgaben bewältigen, die ihn mit seiner Höhenangst konfrontieren, wobei er selbst entscheidet, wie weit er geht. Im Unterschied zu Methoden der realen Konfrontation oder Annäherung, durchlebt der Patient bei der VR-Therapie zwar die angstauslösenden Situationen, fühlt sich jedoch sicherer, da ihm das Setting bewusst ist. Das heißt, er kann sich der Konfrontation besser stellen, weil er weiß, dass ihm nichts passieren kann. Im Video ist ersichtlich, dass Richard unter großem Stress steht, während er eine virtuelle Hängebrücke überquert. Er atmet schwer und blickt mehrfach rechts und links in die Tiefe, bevor es ihm gelingt, seine Hand auf das Geländer der Hängebrücke zu legen und seinen Weg fortzusetzen.
Der letzte Teil des Videos zeigt Richard nach vier Wochen Therapie erneut in dem Einkaufszentrum: Er ist nun in der Lage, zügig von der Wand aus den Weg zum Geländer zurückzulegen, sich dort anzulehnen und herunterzuschauen. Er fährt sogar freiwillig in die obere Etage des Einkaufszentrums, und auch hier bereitet ihm die Situation keine Schwierigkeiten mehr. Richard sagt: „Das wäre vor drei Monaten noch undenkbar gewesen. Ich hätte das total vermieden, ich hätte es nicht mal versucht.“
Die von Oxford VR durchgeführte Studie ist eine der größten randomisierten kontrollierten Studien zu Höhenangst, die jemals durchgeführt wurden. 100 Personen mit Höhenangst, die im Durchschnitt bereits seit 30 Jahren an ihrer Erkrankung litten, nahmen daran teil. 49 Personen erhielten VR-Therapie, 51 Personen nicht. Diejenigen, die an der VR-Therapie teilnahmen, verbrachten im Durchschnitt insgesamt zwei Stunden in der Therapie, aufgeteilt auf durchschnittlich fünf Sitzungen. Alle StudienteilnehmerInnen aus der VR-Gruppe zeigten eine deutliche Verringerung ihrer Höhenangst - im Durchschnitt von 68%. Bei der Hälfte der Personen aus der VR-Therapiegruppe verringerte sich die Höhenangst um mehr als 75%. Diese Ergebnisse sind besser als die durch psychologische Intervention in einem face-to-face Setting zu erwartenden.
91% der PatientInnen gaben an, mit der VR-Erfahrung extrem zufrieden zu sein, 9% sagten, sie seien sehr zufrieden. Für 95% machte die Option zur VR-Therapie im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie die generelle Vorstellung, sich behandeln zu lassen, attraktiver. Auch Personen, die nicht mit einem Therapeuten oder einer Therapeutin über ihre Erkrankung sprechen wollen, können so von einer Therapie profitieren. 95% der StudienteilnehmerInnen würden auch in Zukunft VR-Therapie definitiv in Erwägung ziehen und auch weiterempfehlen.
Laut Oxford VR leidet jeder fünfte Mensch im Laufe seines Lebens einmal an Höhenangst. Da die meisten Personen keine Behandlung erhalten, muss eine noch höhere Dunkelziffer angenommen werden. Mit der VR-Therapie wird eine Therapiemethode zugänglich gemacht, die nicht zeit- und personalintensiv, niedrigschwellig und wirksam ist. Derzeit arbeitet das Team von Oxford VR an der Entwicklung von VR-Therapien für Sozialphobien und Psychosen.
Quellen:
9th World Congress of Behavioural & Cognitive Therapies, Berlin, 18.07.2019.
D. Freeman et al.:„Automated psychological therapy using immersive virtual reality for treatment of fear of heights: a single-blind, parallel-group, randomised controlled trial.“ DOI:https://doi.org/10.1016/S2215-0366(18)30226-8