Chronisch krank und vermeintlich austherapiert - vor allem in der Provinz können Fehldiagnosen wegen mangelhafter Expertise schnell zum Todesurteil werden. Ein "virtuelles Krankenhaus" soll das in NRW ändern - als Kassenleistung.
Es ist eine Frage von Leben und Tod: PatientInnen mit schwerster oder seltener Erkrankung werden von ihren ÄrztInnen aufgegeben. Dabei gäbe es Koryphäen, die helfen könnten. Doch wie kommen PatientInnen und ExpertInnen zusammen? Das will Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) jetzt systematisch lösen - und zwar flächendeckend und als Regelleistung der Krankenkassen. In Düsseldorf stellte er seinen Vorstoß für ein "virtuelles Krankenhaus" gemeinsam mit Projektpartnern aus der nordrhein-westfälischen Spitzenmedizin vor.
Auf einer digitalen Plattform soll die Expertise nordrhein-westfälischer FachärztInnen gebündelt werden. Das virtuelle Krankenhaus könnte dann unter anderem den elektronischen Austausch von Patientendaten sowie Video-Sprechstunden ermöglichen. Der Start der Pilotphase ist für das kommende Frühjahr vorgesehen. Das Land stellt als Träger für das "Krankenhaus ohne Betten und konkreten Standort" bis zu zwei Millionen Euro jährlich in der Aufbauphase zur Verfügung.
"Das ist eine Chance, Ungleichheiten in den Lebensverhältnissen auszugleichen und gleiche Qualität an allen Orten verfügbar zu machen", sagte der Vorstandsvorsitzende des Uniklinikums der RWTH Aachen, Thomas Ittel. So könne Expertenwissen konkreten Personen überall dienen - auch in der Provinz, wo Krankenhäuser und FachärztInnen fehlen. Minister Laumann: "Erreicht werden kann eine bessere Behandlung, vielleicht auch Lebensverlängerung."
Wie entscheidend sich Facharzt-Expertise auf die Überlebenschancen schwerst kranker Menschen auswirke, zeige eine bundesweite Studie, berichtete Ittel. Bei einem Drittel von 500 untersuchten PatientInnen mit Lebermetastasen, die von ihren ÄrztInnen als austherapiert eingestuft worden seien, hätten sich doch noch Operationsmöglichkeiten herausgestellt. "Ein Drittel ist zu retten, sie bekommen aber nicht die kurative Therapie", fasste der Facharzt die Ergebnisse zusammen.
Der Gründungsausschuss für das "virtuelle Krankenhaus" will nun Kriterien festlegen, welche PatientInnen für die digitale Sprechstunde infrage kommen und dann mit den Krankenkassen über die Vergütung verhandeln. "Wir können nicht jeden Patienten virtuell behandeln und eine Zweitmeinung bieten", stellte die Geschäftsführerin des Herz- und Diabeteszentrums NRW (Bad Oeynhausen), Karin Overlack, fest. Laumann: "Das ist nicht die Sprechstunde für Omma Helga, die mal mit dem Professor reden will."
Auswahlkriterien könnten kritische Erkrankungen mit hoher Sterblichkeit sein sowie Beratungen bei Infektionen und Antibiotika-Einsatz, schlug Ittel vor. Es gehe vor allem um schwere chronische Erkrankungen, bei denen sich die Frage stelle, ob die Therapie vielleicht mehr Nebenwirkungen als Nutzen habe, erläuterte Laumann.
Angst vor der Digitalisierung in der Medizin müsse niemand haben, versicherte der Minister. Da er selbst im ländlichen Raum lebe, kenne er die Vorbehalte: "In Düsseldorf hat jedes Haus einen Arzt und ich soll digital ...". Das virtuelle Krankenhaus werde aber keine Behandlungsform ohne Menschen sein. Bei Sprechstunden in telemedizinischen Einzelprojekten habe sich eine Konstellation bewährt: Hausarzt, Patient und zugeschalteter Facharzt.
Telemedizin habe den Vorteil, dass PatientInnen in ihrem oft mit weniger FachärztInnen ausgestatteten Heimatkrankenhaus die gleiche Behandlung zuteil werden könne wie in einer Universitätsklinik, berichtete der Ärztliche Direktor des Uniklinikums Münster, Hugo Van Aken, aus seinen langjährigen Erfahrungen mit einem Trauma-Netzwerk. "Man muss die Patienten nicht immer gleich in den Krankenwagen legen. Das ist wichtig für Patienten und Angehörige."
Um den "Goldstandard" des technisch Machbaren zu erreichen und große Datenmengen in Echtzeit auf die Bildschirme der ÄrztInnen zu holen, sei allerdings flächendeckend schnelles Internet Voraussetzung, betonte Gesundheitsexperte Lutz Stroppe. Immerhin arbeiten in NRW fast 43.000 ÄrztInnen in 344 Krankenhäusern und sieben Unikliniken sowie rund 34.000 Fach- und HausärztInnen in örtlichen Praxen.
Die Verbände der Ersatzkassen sowie der AOK Rheinland/Hamburg und die Krankenhausgesellschaft NRW begrüßten die Pläne. Größte Anerkennung zollte die Landeschefin der Techniker Krankenkasse NRW, Barbara Steffens, dem Pilotprojekt. "Die Initiative kann die Keimzelle für eine virtuelle Exzellenzplattform mit bundesweiter Strahlkraft werden", teilte Laumanns einst von den Grünen gestellte Amtsvorgängerin mit. Das Patientenwohl werde damit "entscheidend verbessert".