Auch jenseits der Corona-Ausnahmelage müssen sich Praxen und Kliniken für neue Anforderungen wappnen. Die Ärzt:innen fordern von der künftigen Regierung eine Reihe von Reformen - und in einem Bereich eine Bremse.
Die Ärzt:innen in Deutschland warnen vor wachsendem Kostendruck und einem bedrohlichem Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Die Personalsituation in Kliniken, Altenpflegeeinrichtungen und bei mobilen Pflegediensten verschlechtere sich zusehends, sagte Ärztepräsident Klaus Reinhardt beim Deutschen Ärztetag in Berlin. "Wenn hier nicht bald etwas passiert, dann droht der Kollaps dieses Systems." Auch bei Ärzt:innen zeigten sich massive Engpässe. Nötig seien Verbesserungen beim Pandemie-Management, außerdem müsse bei der "überhasteten Digitalisierung" in Praxen und Kliniken Tempo herausgenommen werden.
Reinhardt forderte von den möglichen künftigen Regierungspartnern SPD, Grünen und FDP weitergehende Vereinbarungen als die, die aus den ersten Sondierungsergebnissen hervorgingen. Es fehlten ausreichend Medizinstudienplätze. "Bundesweit 3.000 bis 5.000 Studienplätze mehr, dann wären wir etwa da, wo wir im Jahr der Wiedervereinigung waren", sagte er. Dies würde die Lage mittelfristig entschärfen. Nötig seien auch echte Reformen im öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Gesundheitsämter leisteten in der Pandemie Herausragendes. Dies sei aber vor allem dem großen Engagement der Beschäftigten zu verdanken - trotz einer immer noch unzureichenden personellen und materiellen Ausstattung, so Reinhardt.
Nötig sei auch eine zentrale Koordinierungsstelle für die Aktivitäten der einzelnen Ämter. Das Robert Koch-Institut (RKI) könnte einer solchen Bundesbehörde zuarbeiten, sollte aber nicht selbst diese Rolle ausfüllen. Vielmehr brauche das RKI ein "Upgrade" zu einer echten Infektionsschutzbehörde wie in den USA - unabhängig vom Bundesgesundheitsministerium. Gebraucht würden generell bessere Informationen. "Nie war die Vermittlung von Gesundheitskompetenz in der Allgemeinbevölkerung so wichtig wie in der Pandemie", sagte Reinhardt.
Die Digitalisierung habe das Potenzial, einen Beitrag zur besseren Patientenversorgung zu leisten. Sie sei aber "kein Selbstzweck", mahnte Reinhardt. Dem Ministerium und der mehrheitlich bundeseigenen Gesellschaft Gematik sei es zuletzt fast nur ums Tempo gegangen. Bedenken und Warnungen, ob Anwendungen praxistauglich seien oder noch getestet werden müssten, seien "ignoriert oder abgekanzelt" worden. Ständige Störungen der Datenautobahn ("Telematikinfrastruktur") beeinträchtigten aber den Praxisalltag. Nötige Technik fehle teils. Die Akzeptanz digitaler Anwendungen habe massiv gelitten.
"Wenn wir das jetzt noch verändern wollen, dann müssen wir die Reißleine ziehen und Ordnung in dieses Chaos bringen", forderte der Ärztepräsident: "Tempo raus aus der überhasteten Digitalisierung»". In den nächsten zwölf Monaten sollte man sich darauf konzentrieren, geplante Anwendungen ausgiebig auf Praxistauglichkeit und ihren tatsächlichen Versorgungsnutzen zu testen. Die neue Bundesregierung solle daher ein einjähriges Stillhalten (Moratorium) für die Gematik festschreiben. Der geschäftsführende Minister Jens Spahn (CDU) hatte immer wieder Druck für mehr Digitalisierungstempo gemacht - etwa mit der Einführung von Gesundheitsapps und elektronischen Patientenakten.
Aus Sicht der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) geht es nicht um "Hast", sondern darum, dem Gesundheitswesen endlich Anschluss an die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu verschaffen. Durch bessere Digitalisierung könnten Doppelaufwand vermieden und Abläufe gestrafft werden, sagte der Sprecher des GKV-Spitzenverbands, Florian Lanz. "Es klingt vielleicht banal, aber wenn endlich alle Arztpraxen ihre Faxgeräte abschaffen würden und wirklich online wären, dann könnten wir gemeinsam einen Schritt in eine bessere Versorgung machen." Dies könnte dann sogar auch wirtschaftlicher sein.
Reinhardt forderte von SPD, Grünen und FDP gesetzliche Schranken gegen eine weitere Kommerzialisierung des Gesundheitswesens. So sei der Einfluss von Finanzinvestoren auf die Versorgung zu begrenzen. Bei medizinischen Versorgungszentren dürfe sich das Leistungsangebot nicht nur auf einzelne, renditeträchtige Angebote konzentrieren, sondern müsse das ganze Leistungsspektrum eines Gebietes abdecken. Bei den Kliniken kämen die Länder Verpflichtungen zur Finanzierung meist völlig unzureichend nach. "Das kann so nicht bleiben." Nötig seien auch Reformen für die Vergütung und die Planung von Kliniken.