Die Bürgerversicherung - für die zaudernde SPD könnte sie zum schlagenden Argument für eine neue GroKo werden. Doch was hätten die Versicherten von der Großreform?
Für die geschundene Seele der SPD mag die Bürgerversicherung eine wirkungsvolle Therapie sein - aber hilft sie auch gegen die chronischen Leiden des Gesundheitswesens? Wer würde von der Bürgerversicherung profitieren, wer hätte das Nachsehen?
Die von Zweifeln und Zaudern geplagten Sozialdemokraten zeigen sich nicht gerade überzeugt, dass sich ein neues GroKo-Abenteuer um politischer Ziele willen lohnen würde. Sie rangen sich am Donnerstagabend auf ihrem Parteitag mit deutlicher Mehrheit dazu durch, ergebnisoffene Gespräche mit der Union zu führen. Doch für was würde es sich in späteren möglichen Koalitionsverhandlungen zu kämpfen lohnen? Die Bürgerversicherung könnte ein zentrales Projekt sein, das die Basis von einem GroKo-Kurs überzeugt, ähnlich wie der 2015 eingeführte Mindestlohn.
Wäre es die "Zwangsvereinigung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung" (CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe)? Der "Turbolader einer Zwei-Klassen-Medizin" (Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery)? Oder die Kernreform für ein "gerechtes Deutschland" (SPD)?
Zunächst: Die SPD will die Private Krankenversicherung (PKV) nicht auf einen Schlag abschaffen, das geht rechtlich auch gar nicht. Aber: Privatversicherte sollen in die Bürgerversicherung wechseln können. Jeder Neuversicherte, etwa Berufseinsteiger, soll automatisch Mitglied sein. Auch immer mehr Gutverdiener, Beamte und Selbstständige würden gesetzlich versichert.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach meint, dass "der allergrößte Teil der Privatversicherten" in die Bürgerversicherung wechseln würde. Heute sind rund 11 Prozent der Bevölkerung privat versichert. Viele, vor allem Ältere, ächzen unter Beitragssteigerungen der PKV. "Regelmäßige Erhöhungen zwischen 3 und 7 Prozent pro Jahr sind mittel- und langfristig nicht ungewöhnlich", so der Bund der Versicherten. Kinder sind, anders als bei gesetzlichen Kassen, nicht beitragsfrei.
Die Zeitschrift Finanztest hat schon vor längerem festgestellt, dass die PKV nur für Beamte rundherum empfehlenswert sei. Heute müssen sie den Beitrag in einer gesetzlichen Kasse allein zahlen, rund 85 Prozent sind privat versichert. Behandlungskosten werden zu 50 bis 70 Prozent vom Staat als Beihilfe übernommen, den Rest zahlt die Versicherung. Beamtenbund-Chef Ulrich Silberbach sieht gleich die "Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens" durch eine Bürgerversicherung gefährdet. Laut Bertelsmann-Stiftung aber würden Bund und Länder bis 2030 mit einem Großteil der Beamten in der gesetzlichen Versicherung rund 60 Milliarden Euro sparen. Im Gespräch ist ein bundesweiter Arbeitgeberzuschuss statt Beihilfe.
Wer trotz Bürgerversicherung privat versichert bleibt, müsste dann also womöglich mit explodierenden Beiträgen rechnen. Wie diesen Menschen geholfen werden kann, ist auch im SPD-Konzept unklar.
Spannend wäre, was aus den mehr als 230 Milliarden Euro an Altersrückstellungen wird, die die PKV angesammelt hat. Hier käme es wohl auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, ob die zur Bürgerversicherung Wechselnden ihren Anteil mitnehmen könnten.
Wie würde sich die Bürgerversicherung im Medizinbetrieb auswirken? Die SPD verspricht ein "Ende der Zwei-Klassen-Medizin", denn mit höheren Arzthonoraren für Privatversicherte will sie Schluss machen. Das soll auch dem Ärztemangel dort entgegenwirken, wo es wenig Wohlhabende und Privatversicherte gibt. Ärztepräsident Montgomery hält entgegen: "Käme die Bürgerversicherung, gäbe es sofort einen riesigen Markt für zusätzliche Gesundheitsleistungen und zusätzliche Versicherungen." Das wäre erst recht Zwei-Klassen-Medizin. Vor allem fürchten die Ärzte, dass ihr Honorar sinkt.
Doch würde es wohl nicht zuletzt anders verteilt. Aus dem Topf der gesetzlichen Kassen könnten die Ärzte auch mehr bekommen, wenn sie sich weniger über die Privatversicherten quersubventionieren können.
Der Kieler Gesundheitsökonom Thomas Drabinski rechnet wegen der geänderten Ausgabenstruktur mit einem Anstieg der Beiträge bei den gesetzlichen Kassen um rund 1,5 Prozent durch die Bürgerversicherung. Experten der Krankenkassen meinen aber: Für die heute gesetzlich Versicherten würde sich an den Beiträgen zunächst wenig ändern. Lauterbach rechnet mit niedrigeren Beiträgen - der ständige Kostenanstieg im Gesundheitswesen würde durch die vielen Gutverdiener, die neu in der Bürgerversicherung wären, erst einmal ausgeglichen. Geschultert werden sollen die Beiträge - anders als heute - zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Wie sich eine Bürgerversicherung im Detail auswirken würde, liegt an der Ausgestaltung. Würden entgegen den Erwartungen der SPD zum Beispiel nur Privatversicherte wechseln, die besonders viel zahlen müssen, könnte es für die gesetzlichen Kassen teurer werden.
Eine Bürgerversicherung würde über kurz oder lang aber die Sonderstellung Deutschlands in der EU beenden. Für die anderen Gesundheitssysteme gelten einheitliche Finanzierungsregeln.