Von einer seltenen Erkrankung spricht man, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Ungefähr 7.000 bis 8.000 seltene Erkrankungen gibt es insgesamt. In Deutschland sind ungefähr 4 Millionen Menschen betroffen - die Dunkelziffer ist unbekannt. Eigentlich zeigen diese Zahlen bereits, dass seltene Erkrankungen in ihrer Gesamtheit gar nicht so selten sind. Dennoch dauert es oft viele Jahre bis zur korrekten Diagnose. Dies bedeutet für Betroffene oft einen langen Leidensweg, die Ausbildung von Komorbiditäten und nicht selten sogar einen frühen Tod. Im zweiten Forum "Seltene Erkrankungen InFusion" trafen sich heute engagierte Vertreterinnen und Vertreter aus Klinik, Forschung, Pharmazie und Gesundheitswesen in Berlin, um besonders die dringlichen ethischen Fragen hinsichtlich Diagnostik, Therapie und Versorgung patientenorientiert zu diskutieren.
Die Stimmung in der altehrwürdigen Hörsaalruine der Charité wirkt fast konspirativ. Die im Nebenraum befindliche Sammlung des medizinhistorischen Museums und das alte Gemäuer des Veranstaltungssaals verleihen dem Thema des Tages neben der politischen Brisanz auch die nötige historische Dimension – und den Vortragenden die passende Rahmung für deutliche Worte: "Wir müssen der Wahrheit auch ins Gesicht sehen", mahnt Prof. Harald G. Schweim aus Bonn. "Wir stehen in einem System, das sich aufgrund demografischer Faktoren und auch verlogener Äußerungen der Politik - 'jeder kriegt alles, was nötig ist' - am Ende der Belastbarkeit und auch der Finanzierbarkeit befindet. Mein persönliches ethisches Verständnis geht aber dahin zu sagen: Nach dem Grundgesetz ist das menschliche Leben das höchste Gut, das wir überhaupt haben, und es ist nur eine Frage, ob ich mit den vorhandenen Mitteln – entschuldigen Sie, wenn ich das so hart sage – Starfighter kaufe oder die Medizin finanziere, um die Menschen am Leben zu erhalten." Schweim nennt vor allem politische, aber auch gesellschaftliche Missstände, die dazu führen, dass Zugangs-und Verteilungsgerechtigkeit bislang unerreichte Ideale bleiben.
Was es für die Betroffenen heißt mit einer seltenen Erkrankung zu leben, verdeutlicht Birgit Schlennert, die Geschäftsführerin von dsai/Deutsche Selbsthilfe für angeborene Immundefekte e.V. Die größte Schwierigkeit ist dabei oft, überhaupt eine korrekte Diagnose zu erhalten. Manche Babys mit angeborenem Immundefekt versterben noch immer früh, weil ihre Erkrankung nicht erkannt wurde. Aber auch älteren Personen wird oft über Jahre hinweg nicht effektiv geholfen, weil aufgrund diffuser Symptome, mangelnden Bewusstseins für die Möglichkeit einer seltenen Erkrankung oder Scheu vor teuren Diagnoseverfahren keine Diagnose gestellt wird. Aus ihrem Arbeitsalltag zitiert Schlennert Betroffene, die mit Aussagen wie "Aus ein wenig erniedrigten Immunglobulinwerten können Sie keine Krankheit konstruieren, auch wenn Sie das gern möchten" abgefertigt werden. Andere berichten "…ich lag mit der mittlerweile achtzigsten Lungenentzündung im Krankenhaus" oder "in der Universitätsklinik reichte man mich durch sämtliche Abteilungen".
Prof. Volker Wahn aus Berlin weiß, dass beim primären Immundefekt CVID von der ersten Vorstellung bei Ärztin oder Arzt bis zur korrekten Diagnose und Therapie zwischen vier und 15 Jahren vergehen. Bei den IgG Subklassendefekten sind es im Durchschnitt sieben Jahre. Hingegen komme die ICD-Verschlüsselung "Pathologische Infektanfälligkeit" viel zu oft zur Anwendung und sei in 98 bis 99 Prozent eine Fehldiagnose. Grund hierfür sei mangelndes Wissen. Ärztliches Wissen über das Immunsystem, PID und korrekte Diagnosestellung müsse verbessert werden, so Wahn, und Kolleginnen und Kollegen sollten bei PID zur Durchführung einer orientierenden Immundefektdiagnostik angeregt werden. Überaus wichtig sei auch die Vernetzung von Praxen und regionalen Kliniken mit einem PID-Zentrum.
Professorin Elisabeth Steinhagen-Thiessen aus Berlin, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, spannt die Situation noch einmal am Maßstab des Patientenwohls auf und weist auf alltägliche Faktoren aus der Praxis hin. So verhindern beispielsweise schlechte Arbeitsbedingungen, Überlastung und Fachkräftemangel, dass der Patientin oder dem Patienten genug Zeit für Diagnose, Therapie und Kontrolle zur Verfügung gestellt wird. Häufig seien auch ökonomische Interessen dominant, und es fehle an Bereitschaft, teure Untersuchungen zu veranlassen. Besonders bei komplexen Krankheitsbildern fehle es zudem an Koordination, das heißt, am interdisziplinären Austausch der einzelnen mit betroffenen Fachgebiete. Die Patientin oder der Patient könnten in der Folge auch keinen selbstbestimmten Umgang mit ihrer Erkrankung finden. Dabei gelte das Patientenwohl als vorderster ethischer Maßstab, der sich durch die Kriterien einer selbstbestimmungsermöglichenden Sorge, einer hochwertigen Behandlungsqualität sowie Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit zusammensetzt. Diese Kriterien bilden jedoch gleichzeitig die größten Konfliktfelder.
Um diese Konfliktfelder zu entschärfen und gleichzeitig die Einhaltung der Kriterien zu verbessern, müssten laut Steinhagen-Thiessen einige Bedingungen erfüllt werden. Ganz wichtig sei besonders die Kommunikationskompetenz, die sowohl in der Beziehung mit den Patientinnen und Patienten, aber auch in der interdisziplinären Zusammenarbeit eine wichtige Rolle spiele. Diese gelte es zu erhöhen. Zentren sollten gegründet und Register verpflichtend eingeführt werden. Information und Schulung aller Akteure des Gesundheitswesens hinsichtlich seltener Erkrankungen müsse erfolgen. Auch solle man bereits während des Medizinstudiums verstärkt den curricularen Fokus auf die Seltenen Erkrankungen legen. Forschung müsse mehr gefördert werden.
Das Forum "Seltene Erkrankungen InFusion" bietet dabei die passende Bühne für ein jährliches Update zur Lage, fachlichen Austausch und einen adäquaten Raum für gesundheitspolitische Diskussionen.