Anlässlich der vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland ausgerichteten Fachtagung "Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung – Aktuelle und zukünftige Herausforderungen" am 20. November in Berlin, trafen sich Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland, um aktuelle Daten aus der ambulanten Versorgungslandschaft zu diskutieren. Dr.Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) unterstrich in seinem Vortrag die wichtige Schnittstellenfunktion von Kinder- und Jugendärzten in der Zusammenarbeit mit anderen Fachgruppen.
Betrachtet man die Veränderung des Krankheitsspektrums bei Kindern und Jugendlichen in den letzten beiden Jahrzehnten, so ist eine Verschiebung von akuten zu chronischen und von somatischen zu psychischen Erkrankungen festzustellen. Laut KIGGS Studie liegen die psychischen Auffälligkeiten bei ca. 20 Prozent, wovon zwischen sechs und zehn Prozent als behandlungsbedürftige Störung diagnostiziert werden. Ein Großteil der Störungen des Erwachsenenalters nimmt seinen Beginn bereits im Kindes- und Jugendalter. Dabei spielt der sozio-ökonomische Familienstatus eine entscheidende Rolle: Während jeder dritte Junge und jedes vierte Mädchen aus Familien mit niedrigem wirtschaftlichen und sozialen Status auffällig sind, trifft dies nur für jedes 15. Mädchen und jeden achten Jungen aus Familien mit hohem Status zu. Mädchen sind generell eher von internalisierten Störungen, Jungen von externalisierten Störungen betroffen. In der Konsequenz kommt es zu Beeinträchtigungen im familiären, schulischen oder auch im erweiterten sozialen Umfeld. Die Kommunikation wird erschwert, es entstehen Schwierigkeiten, wenn es um Anpassungsleistungen oder Beziehungsbildung geht. Diese Probleme gelangen meistens über die Eltern in die Praxen der Kinder- und Jugendärzte und bergen ein hohes Risiko der Chronifizierung sowie der Entwicklung von Komorbiditäten, wenn nicht rechtzeitig eine Behandlung einsetzt. Daraus leitet sich eine hohe Public-Health-Relevanz ab, da die psychische Gesundheit als wichtiges Fundament für gesundes Aufwachsen und soziale Teilhabe betrachtet werden muss.
Die mit der komplexen Rolle der Kinder- und Jugendärzte einhergehenden Anforderungen an die fachliche Kompetenz in der Verbindung somatischer und psychischer Phänomene wird auch anhand ihrer Definition nach MWBO deutlich: "Das Gebiet Kinder- und Jugendmedizin umfasst die Erkennung, Behandlung, Prävention, Rehabilitation und Nachsorge aller körperlichen, neurologischen, psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsstörungen und Behinderungen des Säuglings, Kleinkindes, Kindes und Jugendlichen vom Beginn bis zum Abschluss seiner somatischen Entwicklung einschließlich pränataler Erkrankungen, Neonatologie und Sozialpädiatrie."1 Kinder- und Jugendärzte werden so zur primären Anlaufstelle für die Versorgung aller im Kindes- und Jugendalter auftretenden Auffälligkeiten oder Störungen. Sie haben in der Regel einen flächendeckenden und niedrigschwelligen Zugang zu Familien und arbeiten innerhalb eines großen sozialen Diversitätsspektrums. Auch erleben sie häufig die Eltern-Kind-Interaktionen ab einem sehr frühen Zeitpunkt, oftmals von Geburt an, mit und gewinnen somit einen differenzierten Blick auf mögliche psychische und/oder soziale Belastungen, die die Beziehung beeinträchtigen könnten oder auf Probleme im weiteren Umfeld hinweisen. Eine besondere Verantwortung erwächst dabei sicherlich auch aus dem Vertrauen, das dem behandelnden Kinder- und Jugendarzt von der Familie entgegengebracht wird: "Wir haben einen Vertrauensvorschuss. Eltern mögen uns. Das ist ein Pfund, mit dem man wuchern kann, das man sich aber auch erst einmal verdienen muss", beschreibt Fischbach seine Stellung als kontinuierlicher Ansprechpartner und erste Anlaufstelle für alle den Nachwuchs betreffenden Sorgen oder Verunsicherungen. Oft begleitet er Familien über ganze Lebensabschnitte.
Um angemessen auf Krisen reagieren zu können, ist eine gute primäre und sekundäre Prävention von psychischen Erkrankungen notwendig. Auf Grund ihrer besonderen Stellung sind Kinder- und Jugendärzte für die Identifikation von Vulnerabilitäten prädestiniert, um dann möglichst früh zu intervenieren. Eine solche Interventionen kann aus der Überleitung in das interprofessionelle Netzwerk "Frühe Hilfen" bestehen, das Angebote zu Integration, finanzieller Unterstützung oder Heilpädagogik bereitstellt. Ebenso kann eine Weiterleitung zur spezifischen Diagnostik und Therapie an Kinder- und Jugendärzte mit Zusatzweiterbildung Psychotherapie, an kinder- und jugendpsychiatrische Fachärzte, Sozialpädiatrische Zentren oder andere, spezielle Beratungsstellen erforderlich sein. Um diese Schnittstellenarbeit innerhalb eines hochdifferenzierten Systems zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Problemen leisten zu können, ist vor allem eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit aller beteiligten Berufsgruppen erforderlich, wobei auch die Kooperation zwischen und die Anschlussstellen der verschiedenen Sektoren – ambulant, stationär, schulischer Bereich, Kinder- und Jugendhilfe, Erziehungs- und Beratungsstellen – im Sinne der Patienten koordiniert und organisiert sein müssen.
Um diese Schnittstellen und Kooperationen zu stärken, gibt es seit Kurzem eine gemeinsame Stellungnahme von BVKJ, DGKJ, DGSPJ, DGKJP, BAG und BKJPP, die in einem Konsenspapier zu Zukunftsthemen in der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland unter dem Dach der DAKJ formuliert wurde.2 Der Anspruch von Kindern und Jugendlichen auf eine Behandlung durch für ihre Bedarfe ausgebildete Spezialisten, ist ein elementares Kinderrecht und steht laut UN-Kinderrechtskonvention allen Kindern zu. Dies betrifft somatische sowie psychosomatische und kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen. Auf die Gewährleistung dieses Kinderrechts zielt das nun veröffentlichte Konsenspapier.
In einem weiteren Kooperationspapier von BKJPP und BVKJ geht es darum, die Vernetzung der einzelnen Fachgruppen in Qualitätszirkeln zu fördern und gemeinsame Fallbesprechungen und Fortbildungen durchzuführen. Weiterhin liegt der Fokus auf der rechtzeitigen Zusammenarbeit, um Chronifizierung oder Ausprägung von psychischen Störungen und Krankheiten bestenfalls zu vermeiden sowie somatische Krankheitsbilder differentialdiagnostisch abzuklären. Ziel ist eine verbesserte Kommunikation und die Vertiefung einer gemeinsamen Versorgungsstrategie der beiden Fachgruppen, auch bei leitliniengemäß unterschiedlicher Herangehensweise – ein Beispiel hierfür ist ADHS.
Zusammenfassend geht es bei noch immer bestehenden, deutlichen regionalen Unterschieden in den Versorgungsangeboten mit sehr unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten darum, Versorgungslücken zu schließen. Hier fehlen besonders Angebote für spezielle Zielgruppen, wie z.B. Kleinkinder, suchtkranke Jugendliche, Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung sowie Kinder psychisch kranker Eltern. Aufgebrochen werden sollte die starke Versäulung und Undurchlässigkeit der Sektorengrenzen. Dazu sollten die Schnittstellen besser organisiert werden, indem man Angebote stärker zusammenführt und aufeinander abstimmt. In diesem Sinne erfolgt im Verbändedialog die Weiterentwicklung einer sektorenübergreifenden, personenzentrierten Versorgung und der Transition in die Erwachsenenmedizin. Den Kinder- und Jugendärzten kommt in dieser Zusammenarbeit auf Grund ihrer markanten Stellung innerhalb des Versorgungssystems und ihrer kontinuierlichen, oftmals jahrelangen Begleitung von Familien mit Kindern eine besondere Bedeutung zu, die besonders durch die Zuarbeit und Rückmeldung anderer Fachbereiche erleichtert werden kann.
Quellen:
Zi-Forum "Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung – Aktuelle und zukünftige Herausforderungen", 20. November 2018, Vortrag Dr. med. Thomas Fischbach
MWBO, 14.1 https://www.aerztekammer-berlin.de/10arzt/15_Weiterbildung/10Weiterbildungsordung/00_WbO_2004_inkl_1_bis_9_Nachtrag.pdf, zuletzt 21.11.2018
https://www.dakj.de/wp-content/uploads/2018/11/gem-Papier-DAKJ-KJPP_04102018_final-zur-PM-Versorgung-durch-Kinderspezialisten.pdf, zuletzt 21.11.2018