Zum Recht, über das eigene Leben zu verfügen, gehört auch die Freiheit, es selbst zu beenden und dabei auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen. Das meint der Berliner Palliativmediziner und Internist Dr. Matthias Gockel. Wie diese Hilfe aussehen kann, wo es Beratung gibt, und worin die Unterschiede zwischen indirekter Sterbehilfe, Tötung auf Verlangen und assistiertem Suizid besteht – all das erörtert er in seinem neuen Buch "Sterbehilfe. 33 Fragen – 33 Antworten". Im esanum-Interview gibt es Auskunft über seine Motive und Gedanken.
esanum: Das Thema aktive Sterbehilfe erinnert ein bisschen an eine endlose Geschichte. Kann man das mal auf den Punkt bringen: Aktive Sterbehilfe - ja oder nein?
Gockel: So einfach ist das nicht. Das fängt schon damit an, dass die Terminologie für viele nicht ganz klar und eindeutig ist. Die Kurzversion lautet: Ich denke, es darf keine Tötung auf Verlangen als Teil der aktiven Sterbehilfe geben. Ich glaube aber, dass es für einen kleinen Prozentsatz von Menschen die Möglichkeit eines assistierten Suizids geben sollte – eingebettet in ein noch auszubauendes Unterstützungssystem.
esanum: Was meinen Sie mit Unterstützungssystem?
Gockel: Ich mache jetzt seit 20 Jahren Palliativmedizin, habe 8.000 bis 9.000 Schwerstkranke am Lebensende betreut. Ich rede in erster Linie über diese Zielgruppe. Und da sage ich: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, wo ich schneller eine tödliche Tablette bekomme als einen guten Schmerztherapeuten. Mit Unterstützung meine ich also: Gute Schmerztherapie und sonstige Symptomkontrolle. Bevor es eine gesellschaftliche Struktur gibt, in der jemand eine tödliche Pille oder eine von ihm selbst zu setzende Infusion bekommt, sollte es immer die Möglichkeit geben, dass sich jemand offen, empathisch und kompetent mit dem Sterbewilligen unterhält über die Frage: Was können wir besser hinkriegen? Noch einfacher: Ehe die Gesellschaft Menschen helfen soll zu sterben, soll sie helfen zu leben.
esanum: Und diese Strukturen haben wir nicht?
Gockel: Wir haben inzwischen bessere Strukturen als noch vor 20 Jahren, als ich angefangen habe. Die Palliativmedizin ist definitiv besser geworden. Trotzdem erlebe ich immer noch Leute, die durchaus schon Berührung mit dem Palliativsystem gehabt haben, die immer noch nicht bestmöglich in ihrer Symptomkontrolle eingestellt sind. Gerade z. B. bei neuropathischen Schmerzen ist die Frage, wie erfahren ist der Arzt/die Ärztin, welche Dosierungen traut sich der Palliativmediziner zu geben? Wieviel Routine hat er mit hohen Dosierungen?
esanum: Wie gut ist die Palliativversorgung denn derzeit?
Gockel: Grundsätzlich stimmt die Richtung. Früher wurde ich zwei Wochen vor dem Ende hinzugerufen. Heute bin ich oft schon bei der Erstdiagnose einer metastasierten Tumorerkrankung dabei, die noch ein, zwei, drei Jahre gut gehen kann. So kann man viele Sachen im Vorhinein besprechen. Aber die Versorgungsdichte ist sicher noch nicht ausreichend.
esanum: Woher eigentlich die traditionelle Zurückhaltung bei Opioiden?
Gockel: Der Spruch: "was ist, wenn er abhängig wird?", ist seltener geworden - aber den können sie auch 2020 noch von Kollegen hören. Da gibt es Ängste und Traditionen, die nicht ausreichend kritisch hinterfragt werden. Es gibt Verordnungen und Dosierungen von Opioiden, die insuffizient sind, aber auch Verordnungen, die sogar pharmakokinetisch sinnlos sind. Nur zehn Stunden Schmerz, statt 24 Stunden, ist sicher ein Fortschritt, aber es ist sicher nicht State of the Art. Oder ein Retardprodukt zu verordnen, für den Fall, dass es akut schlimmer wird, ist auch nicht angebracht. Man kann sich heute nicht darauf verlassen, dass man nie in die Situation kommt, unerträgliche Schmerzen zu haben.
esanum: Es gibt doch aber klare Leitlinien?
Gockel: Ja, es gibt das ziemlich alte Stufenschema der WHO. Und bei Opioiden gibt es auch keine Höchstmenge. Trotzdem wird es zu wenig gemacht. Sie können heute immer noch Palliativmediziner sein, ohne, dass sie eine größere Anzahl von Patienten betreut haben. Und wenn man lernt, Opioide können Atemdepressionen auslösen, hat man eben Respekt davor. Ich hatte zum Glück Lehrer, die gesagt haben: wir sehen bei diesem Patienten, es reicht nicht, was er bekommt. Jetzt spritzen wir ihm eben noch 10mg Morphin.
esanum: Und welche Rolle spielt die Angst vor juristischen Folgen?
Gockel: Die ist sicher da. Aber die Angst scheint mir größer als die reale Gefahr. Wenn ich eine Patientenverfügung ignoriere, aus Furcht vor "unterlassener Hilfeleistung", dafür aber eine Körperverletzung begehe, müsste die Angst ja genauso groß sein. So ganz verstehe ich bis heute nicht, woher die Opiat-Angst kommt. Auch eine zu hohe Dosis Betablocker ist tödlich oder eine zu hohe Dosis Insulin. Dennoch hat die Diabetikerversorgung diese Probleme nicht, die die Schmerztherapie hat.
esanum: Warum haben Sie Ihr Buch über Sterbehilfe geschrieben? Was wollen Sie bewirken?
Gockel: Es war die Gelegenheit, diese Dinge mal auszusprechen. Mir ist wichtig, das Thema für Ärzte aufzubereiten, aber auch für Patienten, die den Ärzten begegnen - damit sie wissen, wovon geredet wird. Ich hatte mal eine Dialyse-Patientin, die sagte, sie will nicht mehr. Sie möchte einfach nur einschlafen. Da habe ich sie gefragt, warum sie dann dreimal die Woche zur Dialyse gehe. Antwort: Weil ich sonst sterbe. Und als ich sagte: Wenn sie nicht mehr leben wollen, dann gehen sie doch einfach nicht zur Dialyse, schaute sie mich erstaunt an und fragte: Ja, darf ich das denn? Da kann ein bisschen mehr Wissen über die Thematik nicht schaden.
esanum: Haben Ärzte eigentlich zum Thema Tod ein aufgeklärteres Verhältnis als der Durchschnitt?
Gockel: Ohne dazu eine Studienlage zu kennen, glaube ich, dass jemand, der selbst Angst vor dem Tod hat, weniger entspannt mit seinem Patienten über den Tod reden kann. Wir haben dazu keine fundierte Gesprächsausbildung, in die auch Aspekte der Selbsterfahrung eingebunden sind. Ich hatte einmal eine Patientin, die mehrere Metastasen hatte. Als sie zu ihrer Onkologin gesagt hat, dann sollte sie sich wohl langsam mit dem Thema Sterben beschäftigen, sagte die Onkologin erschrocken: Um Gottes Willen, an sowas dürfen Sie nicht mal denken!
esanum: Das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben ist vom Bundesverfassungsgericht festgeschrieben worden. Was beinhaltet dieses Recht genau?
Gockel: Damit ist der § 217 hinfällig, er ist nicht verfassungsgerecht. Jetzt hat der Gesetzgeber den Auftrag, sich darum zu kümmern. Was macht man jetzt stattdessen? Ist Beihilfe wieder straffrei? Können die wie auch immer gearteten Sterbehilfeorganisationen weitermachen? Das wäre eine Option. Ich würde mir wünschen, dass durch das Urteil und dessen mediale Präsenz einfach mal anders über diese Thematik geredet wird.
esanum: Was wäre denn Ihr Wunsch? Ihr Ideal?
Gockel: Ich wünsche mir ein für alle Menschen in ihrer Nähe erreichbares "Zentrum für Sterbewunsch". Dort soll es darum gehen, aus welchem Grund sich ein Mensch suizidieren möchte. Das sind psychiatrische Erkrankungen, sicher an erster Stelle die Depression, das sind unkontrollierte Symptome, sowie die Angst davor, das sind wirtschaftliche Sorgen, pflegerische Versorgungsnöte. Wenn jeder weiß: dahin kann ich gehen, wenn ich nicht mehr leben will, das wäre wunderbar. Man wüsste, ich kriege da nicht sofort eine Pille oder eine Infusion, sondern da sitzen Experten, die reden mit mir: Schmerztherapeuten, Sozialarbeiter, Psychiater, die eine offene Einstellung zudem Thema haben. Und die gucken dann zusammen, was an den Gründen, nicht mehr leben zu wollen, zu verändern wäre. So eine Beratung wäre verpflichtend, wenn jemand Hilfe sucht, um zu sterben. Und wenn die Experten dann das Beste aufgebracht haben, was sie konnten und das nicht reicht, dann soll die Möglichkeit gegeben sein, dort schmerzfrei mit medikamentöser Unterstützung sterben zu dürfen.
esanum: Glauben Sie, bei Freigabe eines entsprechenden Mittels oder der Sterbehilfe allgemein, würden sich sofort zigtausend suizidieren?
Gockel: Ich stelle mir eher vor: Wenn es so ein Zentrum gäbe, könnten wir sogar Suizide verhindern. Wir haben mindestens 10.000 Suizide jedes Jahr. Wenn ich den assistierten Suizid verbiete, werden das nicht weniger. Wenn sie keine Möglichkeit haben, jemanden auf die Probleme anzusprechen, dann wachsen die Ängste: Wie wird mein Sterben sein? Und das kann zu Kurzschlusshandlungen führen.
Ich bin sicher, dass es eine Menge Leute gibt, die in dem Moment, wo sie die Erlaubnis haben, ein tödliches Medikament zu erwerben, es dann gar nicht nehmen. Ihnen genügt die Sicherheit: Ich habe es ja, ich könnte es nehmen, wenn ich an den Punkt komme, wo ich nicht mehr kann. Aber wenn heute ein Patient bei der Visite sagt, er will nicht mehr leben, hat er eine größere Chance, dass demnächst ein Psychiater an seinem Bett steht, als dass er von einem behandelnden Arzt mit ausreichend Zeit und Empathie gefragt wird: Warum denn?
esanum: Warum sind Sie Palliativmediziner geworden – ist das nicht ein trauriger Beruf?
Gockel: Nein, im Gegenteil. Er kann sehr befriedigend sein. Wenn ich in 90 bis 95% der Fälle hinkriege, dass ich Menschen deutlich symptomgelindert, im Idealfall sogar schmerzfrei, ohne Luftnot, ohne Angst, bis zu ihrem Tod begleiten kann, und dass sie die Zeit davor noch gut leben können - das ist für mich ein schöner Erfolg und befriedigend. Patienten sollen so wenig wie möglich leiden, das ist das Ziel. Und das schaffe ich. Welcher Onkologe kann das immer von sich sagen?
esanum: Was machen Sie, wenn Sie um ein tödliches Medikament gebeten werden – außerhalb des Protokolls?
Gockel: Ich wurde hundertmal darauf angesprochen. Ich frage dann immer: Was führt dazu, dass du mir diese Frage jetzt stellst, wann war es zuletzt so, dass du diesen Wunsch nicht hattest? Dann haben wir alles durchexerziert. Und wenn ich dann erklärt habe: wenn es hart auf hart kommt, dann können wir dich sedieren, so dass du gar nichts merkst, also sozusagen "Sterbehilfe light", hat das die Allermeisten beruhigt. Nur eine Handvoll blieb übrig, und da hatte ich bisher immer das Glück, dass sie gestorben sind, bevor ich mich dieser Gretchenfrage stellen musste.