Verschiedene Studien belegen, dass Innovationen bei bestimmten Gruppen unserer Gesellschaft nicht adäquat ankommen. Die neuesten medizinischen Methoden stehen also nicht allen gleichermaßen zur Verfügung. Ganz konkret: Menschen mit Migrationshintergrund beispielsweise bekommen seltener die Teilnahme an Studien mit innovativen Medikamenten angeboten - so das Ergebnis unserer Berliner Studie an Frauen mit gynäkologischen Malignomen, wie Brust- und Eierstockkrebs. Gründe für diesen Nachteil, der auch die Patientinnensicherheit und die Prognose beeinflussen kann, werden in der wissenschaftlichen internationalen Literatur immer wieder diskutiert. Skalierbare und flächenhafte Programme, diese Barrieren zu überwinden, fehlen aber bei den meisten Erkrankungen.
Zu den benachteiligten Gruppen können unterschiedliche Menschen gehören, das betrifft ethnische Aspekte, demographische und soziokulturelle Charakteristika.
Vorurteile oder bestimmte Stereotype sind menschlich. Jeder kennt das. Aber wir müssen das gerade in der Medizin verstehen und bewusst überwinden. Von der Medizin sind alle Menschen gleich zu behandeln. Das ist unsere Grundeinstellung und die ist nicht verhandelbar! Es gibt sehr viele gute Beispiele zur Überwindung von Barrieren und Benachteiligungen mit unterschiedlichen Ansätzen, wir müssen aber diese Inseln miteinander vernetzen, um sie zu skalieren und voneinander zu lernen.
Damit haben wir vor rund 10 Jahren an der Charité begonnen. Und jetzt haben wir bestimmte Fort- und Weiterbildungsformate in die Regelversorgung überführen können. Wir haben in jedem Zentrum Beauftragte für interkulturelle Kompetenz, das war ein Meilenstein. Wir haben aktuell eine deutschlandweite Umfrage bei Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund zu den Themen Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Testament durchgeführt. Der Bedarf an Informationen und Aufklärung ist sehr groß, auch bei so sensiblen Fragen wie Sterben oder Sexualität. Da ist noch viel zu tun. Man braucht evtl. neue Konzepte wie Video- oder Audioformate.
Im Jahre 2021 erschien im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) eine Analyse zu den Diskriminierungsrisiken und zum Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen (Susanne Bartig et al, 2021), wobei u. a. Diskriminierungsrisiken durch mangelnde räumliche und kommunikative Barrierefreiheit im Gesundheitssystem, unzureichendes Fachwissen und eine unzureichende Sensibilisierung des medizinischen Personals für die spezifischen Bedürfnisse bestimmter Patientinnengruppen kritisiert wurden.
Diese Resultate sollten wir nicht als Affront, sondern als wertvolle Kritik verstehen und als Chance nutzen, gemeinsam nach Lösungsansätzen zu suchen. Dabei finden sich viele praktische Felder, die sowohl die klinische als auch die wissenschaftliche Praxis betreffen.
So ist es beispielsweise absolut unverständlich, dass die Informations- und Aufklärungsmaterialien von klinischen Studien in der Regel nur in deutscher Sprache bei den Ethikkommissionen eingereicht werden, sodass Menschen, die z.B. nur türkisch, ukrainisch oder arabisch sprechen, nur mit erheblichem zusätzlichen Aufwand in die jeweilige Studie aufgenommen werden können - das ist vielleicht auch ein Grund für die deutliche Unterrepräsentiertheit von Menschen mit Migrationshintergrund. Dabei wäre es doch so leicht umsetzen, dass die Ethikkommissionen grundsätzlich mehrsprachige Dokumente einfordert.
Meine Eltern kamen als politische Flüchtlinge aus der Hafenstadt Tanger in Marokko nach Deutschland. Sie waren Analphabeten. Ich bin in Berlin geboren, ich liebe diese Stadt, ich liebe unser Land, und ich denke, gerade wir Ärzte sollten uns mit allen wichtigen gesellschaftsrelevanten Themen auseinandersetzen, denn Gesundheit ist bekanntermaßen mehr als nur die Betrachtung der Krankheit - die WHO-Definition der Gesundheit beschreibt ja das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden als Gesundheit.
Ich freue mich sehr, dass ich nun Teil eines großartiges Teams bin: in unserem Projekt “Empowerment für Diversität - Allianz für Chancengleichheit”, mit dem wir eine neue Möglichkeit der Mitgestaltung gestartet haben. Dieses Projekt, gefördert von der Stiftung Mercator, soll wirklich “empowern” und ein bundesweites Netzwerk für Fortbildung, sowie Weiterbildung und Qualifikation in interkultureller Kompetenz etablieren. Es geht also darum, derartige Projekte in den Kliniken miteinander zu vernetzen, um Barrieren abzubauen.
Übrigens, ich hatte gerade die künstliche Intelligenz herausgefordert und bei ChatGPT einmal “Morbus Mediterraneus" eingegeben. Ergebnis: Bereits 2019 erschien im Spiegel ein Beitrag mit der Überschrift: “Diagnose "Morbus Mediterraneus": Das rassistische Klischee von wehleidigen Migrantinnen”.
Dabei ließ mich die künstliche Intelligenz völlig allein, es gab kein eigentliches Wissen dazu. Das macht mir irgendwie wieder Mut, denn interkulturelle Kompetenz kann meiner Meinung nach nur mit biologischen und sozialen Aspekten im echten menschlichen Dialog erworben werden! Darauf freue ich mich, bis dahin!
Ihr Jalid Sehouli