Baerwald: Spannende Frage. Zum einen hat das mit der demografischen Entwicklung zu tun, da im Alter rheumatische Erkrankungen häufiger auftreten. Zum anderen werden wir immer besser im Erkennen rheumatischer Erkrankungen. Wir finden also Erkrankungen frühzeitig, die noch nicht das ganze Ausmaß der Symptome erreicht haben. Zudem gibt es auch hin und wieder neue Krankheitsfälle, die auftreten und verifiziert werden. Eine große englische Studie hat eine Zunahme von Autoimmunerkrankungen festgestellt, darunter auch rheumatische Erkrankungen. Es gibt sozio-ökonomische Unterschiede, indem ein niedriger sozio-ökonomischer Status einen Risikofaktor für eine entzündlich-rheumatische Erkrankung darstellt. Wahrscheinlich haben auch Umweltfaktoren damit zu tun, dass das Immunsystem eher einmal falsch reagiert. Aber ganz eindeutig ist das nicht geklärt.
Baerwald: Bestimmte hormonelle Faktoren spielen bei Immunreaktionen auch eine Rolle, das hat man inzwischen herausgefunden.
Baerwald: Ein Schwerpunkt ist die Alterung des Immunsystems, die Immunoseneszenz. Es gibt den Effekt, dass das Immunsystem “voraltert”. Das Immunsystem scheint also älter als der Patient und passt nicht zum biologischen Alter. Ob das ein Effekt oder eine Ursache der Erkrankung ist, ist noch nicht geklärt. Wir stellen in verschiedenen Sessions Erkenntnisse dazu vor, was daraus resultiert und klären Faktoren, die dabei eine Rolle spielen. Letztendlich geht es darum, diese Voralterung zu verhindern oder wieder zurückzuführen.
In einem weiteren Schwerpunkt geht es um die Interaktion des autonomen Nervensystems mit dem Immunsystem. Es gibt neuere Erkenntnisse, dass das autonome Nervensystem, welches ja Stresseinflüsse im Körper vermittelt, damit auch Einflüsse auf das Immunsystem hat. Erste klinische Studiendaten zeigen, dass eine Stimulation des Nervus Vagus Effekte bei bestimmten Erkrankungen erzielen kann, die dem entsprechen, was man sonst nur mit Medikamenten erreicht. Das Immunsystem scheint konditionierbar, ähnlich wie der Pawlowsche Reflex beim Hund. Das sind vielversprechende neue Ansätze, die weiter untersucht werden müssen. Der Kongress stellt solche grundlegenden Erkenntnisse, die eben auch außerhalb der Rheumatologie liegen, bewusst und gern vor.
Toleranzinduktion ist ein weiteres wichtiges Thema, dem wir uns auf dem Kongress zuwenden. Es geht darum, dass bei rheumatischen Autoimmunerkrankungen die Toleranz des Immunsystems gegenüber körpereigenem Gewebe abnimmt - es wird als zum Teil fremd gesehen und angegriffen. Wenn man es also schafft, diese Toleranz wiederherzustellen, dann gelingt es, die Erkrankung zurückzudrängen. Dazu gibt es spannende Studien, die zeigen, dass man eine Art Reset bei bestimmten Immunzellen durchführen kann, so dass die Erkrankung tatsächlich verschwindet. Das könnte für Schwerstkranke ein Hoffnungsschimmer sein.
Desweiteren kümmern wir uns schwerpunktmäßig um die genetisch bedingte Inflammasom-Aktivierung. Bei manchen Menschen kommt es schneller dazu als bei anderen. Wir wollen besser erkennen, welche Gene dabei eine Rolle spielen und wie das therapeutisch genutzt werden kann.
Baerwald: Das ist ein weiterer Ansatz, dem wir nachgehen: Wie kann man verhindern, dass die Erkrankung ausbricht? Man will dabei Patienten sehr früh identifizieren, die rheumatische Beschwerden und bestimmte Risikofaktoren haben, bei denen man dann bereits mit einer antirheumatischen Therapie beginnt - und schaut, ob sie im Verlauf überhaupt eine rheumatoide Arthritis entwickeln. Es zeigt sich bereits, dass der Ausbruch der Erkrankung in vielen Fällen verhindert werden kann. Das sind erste Studien und Ansätze, die weiter verfolgt werden.
Baerwald: Natürlich ist “Alltagsrheumatologie” ein wesentlicher Kongress-Schwerpunkt. Hier stehen die älteren Patienten im Fokus. Auch die Interdisziplinarität wird dezidiert in den Blick genommen. Viele Themen überschneiden sich mit anderen Fächern wie z. B. Nephrologie, Pneumologie, Neurologie. Wir gehen der Frage nach: wie wirken rheumatische Erkrankungen auf andere Organsysteme?
Baerwald: Wissenschaftlich sind wir gut aufgestellt. Aber die klinische Versorgung könnte demnächst problematisch werden. Wir sehen, dass wir immer mehr Patienten haben - aber nicht mehr Ärzte. Zugleich gehen die Weiterbildungsstellen zurück. Das ist ein großes Problem. Wir haben Bedenken, ob diejenigen von uns, die in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren in den Niederlassungen ausscheiden, ersetzt werden können. An Interesse beim Nachwuchs mangelt es eigentlich nicht. Doch im DRG-System war die Rheumatologie relativ unterfinanziert. Daher brauchen wir politische und finanzielle Entscheidungen, die nötigen Weiterbildungsstellen ausreichend zu finanzieren.
Prof. Dr. Christoph Baerwald ist 2023 Kongresspräsident beim 51. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2022 war er 23 Jahre lang Leiter des Bereichs Rheumatologie am Universitätsklinikum Leipzig.
DGRh-Kongress 2023: "Blick über den Tellerrand"
Vom 30.08. bis zum 02.09.2023 kommt die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie im Rahmen ihres 51. Fachkongresses zusammen, um sich zum gesamten Spektrum der Rheumatologie auszutauschen – von der klinischen Rheumatologie über den praktischen Versorgungsalltag hin zur experimentellen Rheumatologie mit innovativen Entwicklungen und zum interdisziplinären „Blick über den Tellerrand“. Alle Highlights finden Sie in der esanum-Berichterstattung.