Niemeier: Ich glaube, Sie haben gute Beispiele dafür genannt, dass die Rheumatologie ein Überbegriff ist für einen sehr großen medizinischen Themenkomplex ist, der natürlich assoziativ primär mit Immunologie an verschiedenen Organsystemen mit verschiedenen Erkrankungen zu tun hat. So wie wir den Begriff Interdisziplinarität verstehen, wie Medizin bei uns im deutschen Raum historisch gewachsen ist, haben wir verschiedene Disziplinen: Die grobe Einteilung erfolgte früher in “operative Medizin” und “nicht operative Medizin”. Inzwischen haben wir innerhalb der Inneren Medizin einen ganzen Baum von Unterdisziplinen, die sich zu eigenständigen Disziplinen entwickeln. Das gleiche gilt in der Chirurgie und in der Chirurgie wiederum für die Orthopädie und Unfallchirurgie. So muss man sagen, dass jede eigene Fachdisziplin am Ende wieder zusammenkommt, wenn wir über komplexe Systemerkrankungen sprechen. Genau das ist ja jede rheumatische Erkrankung. Das bedeutet: Die Rheumatologie heute ist interdisziplinärer denn je, weil wir heute besser als jemals zuvor verstehen, dass aus diesem verzweigten Baum jeder einzelne, kleine Ast beteiligt sein muss, wenn wir das Ganze verstehen und effektiv behandeln wollen.
Niemeier: Die Rheumatologinnen und Rheumatologen sind ja entweder internistische oder orthopädische Rheumatologen oder speziell ausgebildet in Richtung Kinder- und Jugend-Rheumatologie. Dementsprechend sind Pädiater, Internisten und Orthopäden klassischerweise diejenigen, die Rheumapatienten behandeln. Wir müssen natürlich alle immer daran denken, wenn ein Patient mit einer spezifischen rheumatischen Erkrankung kommt, ob wir spezielle Fachrichtungen hinzuziehen müssen – also ob wir einen Lungenfacharzt, Augenarzt, Urologen, Gastroenterologen brauchen oder jemanden, der spezielle diagnostische Möglichkeiten hat, die uns als Fachärzten in unserem gewohnten Arbeitsumfeld nicht zur Verfügung stehen. Das sind meiner Ansicht nach die wesentlichen Disziplinen. Die Nephrologen dürfen wir natürlich auch nicht vergessen.
Niemeier: Wir sehen eine phantastische Verbesserung der Verlaufsform, die für den Großteil der Patienten wirklich segensreich ist. Dadurch bedingt sind die notwendigen Indikationen für operative Eingriffe tatsächlich einem Wandel unterzogen. Was wir früher häufig machen mussten – bei schwer mutilierenden Verlaufsformen operativ eingreifen – müssen wir glücklicherweise heute extrem selten. Die allgemein benigne, gutartige Verlaufsform ist also die erste gute Nachricht für Patienten. Für die einzelnen Patienten, die einer Operation bedürfen, gibt es im Prinzip zwei große Kategorien: gelenkerhaltend oder gelenkersetzend. In beiden Bereichen ist es legitim zu sagen, dass wir erhebliche Fortschritte gemacht haben, was die Operationstechnik angeht, wenn das Operieren denn zur Anwendung kommt. In anderen Worten: Wenn wir vor 20 oder 30 Jahren gelenkerhaltend operiert haben und zum Beispiel die Gelenkschleimhaut entfernt haben, wurde das häufig mit offenen Operationsverfahren gemacht. Heute machen wir das größtenteils geschlossen-minimalinvasiv-arthroskopisch, also durch Gelenkspiegelung. Das ist eine Entwicklung, die für den Patienten dazu führt, dass die Operation insgesamt weniger belastend ist und die Rehabilitation schneller vonstatten geht bei ungefähr vergleichbaren Ergebnissen. Das hat damit zu tun, dass sich diese Operationsmethoden im Hinblick auf Frequenz und technische Ausreifung wesentlich weiterentwickelt haben. Das gleiche gilt für die Gelenkersatzoperation in Grundzügen ganz genau so, dass wir perioperatives Management, Techniken und Implantate haben verbessern können, sodass für den Patienten der operative Eingriff selbst weniger belastend ist und die postoperative Nachbehandlung sowie Rehabilitation schneller vonstattengehen. Ich denke, das sind die beiden wesentlichen Punkte, die zur Verbesserung aus Patientensicht beigetragen haben, auch wenn es zur Operation kommt.
Niemeier: Das wesentliche Stichwort ist “Früherkennung”. Was uns in Deutschland fehlt, ist ein flächendeckendes Netz eines hinreichenden Angebots von Früharthritissprechstunden. Der junge Patient, typischerweise zwischen 20 und 40, braucht bei den ersten Symptomen eine Anlaufstelle mit Ärzten, die fundierte Kenntnisse haben in der Früherkennung von Arthritis, eine schnelle Diagnostik in die Wege leiten und die Patienten gezielt behandeln, wenn indiziert. Das ist für die rheumatoide Arthritis das klassische “Window of Opportunity”, das maximal drei bis sechs Monate geöffnet ist. Wenn wir früh und aggressiv therapieren, können wir die Krankheit heilen oder schwere Verlaufsformen sehr effektiv bremsen beziehungsweise abmildern. Die Tatsache, dass das nicht überall in Deutschland gelingt, liegt nicht an mangelndem Wissen, sondern weil dieses Wissen nicht flächendeckend den Patienten, die es brauchen, zur Verfügung gestellt wird. Gesundheitspolitisch wäre der erste Schritt, die Awareness für die Notwendigkeit einer frühen Diagnostik und Therapie flächendeckend zu wecken, ins Bewusstsein der Allgemeinmediziner zu schaffen und sicherzustellen, dass solche Patienten binnen weniger Wochen einen Ansprechpartner finden und versorgt werden. Wir haben große Regionen mit erheblicher Unterversorgung.
Niemeier: Aus Sicht der orthopädischen Rheumatologie ist das die Frage, wie sich Operationsindikationen verändern und wie wir gegebenenfalls aus dem wissenschaftlichen Studium der Gelenkschleimhaut unter Einfluss von Biologikatherapie etwas über Krankheitsverläufe, Operationsindikationen und Therapiewechsel lernen können. Das andere große Thema, das auch hier zur Sprache kam, ist der Einfluss von Umweltfaktoren auf das Immunsystem. Das ist ein absolutes Hot Topic, zu dem aktuell auch viele spannende Studien veröffentlicht werden. Der dritte Punkt, der mir wirklich am Herzen liegt, sind Versorgungsstrukturen in Deutschland. Ich finde es wichtig, dass wir das artikulieren. Uns nützt das beste Wissen in der Medizin nichts, wenn wir es nicht umsetzen und nicht an den Mann bringen. Das ist leider in der Rheumatologie zu oft der Fall. Wir wissen viel, wir haben exzellente Wissenschaft, aber wir brauchen zu lange, bis die Erkenntnisse zum Patienten kommen.
Niemeier: Für uns in einem Versorgungskrankenhaus, das COVID-Schwerpunktkrankenhaus war, hat es bedeutet, dass der Arbeitsalltag in einer Akutklinik als Versorgungsklinik mit einem sehr hohen prozentualen Anteil von stationär erkrankten COVID-Patienten bis zur Unmöglichkeit erschwert wurde. Das strukturierte Bearbeiten von Problemen, die der normale Patient hat, ist aufgrund des echten Krisenmanagements, welches wir zu bewältigen hatten, vollkommen in den Hintergrund getreten. Glücklicherweise hat sich das in den letzten 12 Monaten geändert, seitdem sich herausgestellt hat, dass die aktuell prädominaten Varianten weniger krankmachend sind. Aber am Anfang war das eine Krise, deren Ende wir nicht haben absehen können. Meine größte Sorge im deutschen Gesundheitssystem ist, dass die Belastung, die dadurch entstanden ist, wie ein Eisberg vor uns hertreibt und wir noch nicht absehen können, was das für die Belastbarkeit der Strukturen und die Weiterversorgung aller anderen Patienten, wie wir es vor der Pandemie kannten, bedeutet. Ich denke, darüber müssen wir sprechen und uns als Gesellschaft bewusst werden, dass das eine Menge Geld gekostet hat und es einer hohen Anstrengung bedarf, wieder dahin zu kommen, wo wir vor COVID waren.
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