Zu Beginn ein wenig zu den Hintergründen der aktuellen STI-Problematik: Wenn Sie in einem Ballungsraum wie Berlin leben, werden Sie sicher schon festgestellt haben, dass sich in unserer Wahrnehmung von Sexualität vieles verändert hat und dies auch noch immer tut. Aber trotz dessen bleiben Sex und sexuelle Infektionen weiterhin eines der großen Tabuthemen in unserer Gesellschaft.
Parallel hierzu passten sich ebenso viele Erreger sexuell übertragbarer Infektionen (STI) an das geänderte Sexualleben der Menschen an. So ist z. B. der Erreger des Genitalherpes (Herpes simplex Typ 2) aufgrund der heutzutage weit verbreiteten Praxis des Oralverkehrs längst nicht mehr allein nur im Bereich des Genitale, sondern ebenso im Mund-Rachen-Raum zu finden. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Gonokokken oder Treponema pallidum, dem Erreger der Syphilis. Desweiteren geht ein großes und stetig größer werdendes Problem in der Behandlung der STI von antibiotika-resistenten Gonokokken-Stämmen aus, die auf herkömmlichem Wege sehr schwer zu behandeln sind.2Wie groß ist also die Gefahr durch Geschlechtskrankheiten? Diese Frage stellen wir mit Blick auf die teils besorgniserregenden Entwicklungen, z. B. in Berlin, Hamburg oder Köln. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) lieferte darauf unlängst eine einfache Antwort: Sie bezeichnete die STI als eine der fünf häufigsten Infektionsursachen weltweit, die Erwachsene überhaupt dazu bringen, medizinische Hilfe zu suchen.3
Viel gefährlicher sind allerdings noch jene Erreger, die eben nicht durch fulminante Symptomatiken auffallen. Die Betroffenen bemerken in vielen Fällen die bestehende Infektion gar nicht. Und solche asymptomatisch verlaufenden STI-Infektionen sind gar nicht so selten. Beispielsweise finden sich teils jahrelange Latenzphasen unter anderem bei der Syphilis, bei Infektionen durch Chlamydien, bei der oralen Gonorrhoe oder auch nach einer erfolgten HIV-Erstinfektion. Wie solche PatientInnen nur finden, diagnostizieren und dann auch noch möglichst frühzeitig therapieren?
Der Ansatz der "sprechenden Medizin” kann wohl auch bei den STI gewinnbringende Vorteile bieten, denke ich. Die Sexual-Anamnese ist nämlich dabei sogar Ihr wichtigstes und am einfachsten umzusetzendes Mittel, um sich als behandelnde Urologin / behandelnder Urologe ein wenig mehr Klarheit über die sexuelle Vielfalt der PatientInnen zu verschaffen und deren individuelle Risiken frühzeitiger erkennen zu können. Können Sie aber überhaupt frei und ungezwungen über Sexualität sprechen?
Keine Angst, was Ihre Gesprächsbereitschaft im ersten Moment möglicherweise verringert, bremst auch Ihre PatientInnen. Auf der anderen Seite wünschen sich diese jedoch von Ihnen, dass Sie das Thema bitte ansprechen mögen. Das Einstiegsproblem sind jedoch unsere Wertvorstellungen und die moralisch-kulturellen Zwänge, denen wir alle, egal ob PatientIn oder Ärztin/Arzt in unserem alltäglichen Tun unterliegen. Sexuell übertragbare Infektionen galten in früheren Jahren oft noch als Ausdruck von "jugendlichem Leichtsinn" oder als eine Strafe für "sündhaftes Sexualverhalten", und in vielen Köpfen ist auch heute noch der Sex etwas Schmutziges, Anrüchiges. Dabei wissen wir doch heute längst, dass Menschen aller Altersklassen, jeder sexuellen Orientierung und aus allen sozialen Schichten Sexualität leben und von STI betroffen sein können.
Unser heutiges Sexualleben ist verglichen mit dem vergangener Generationen um einige Potenzen vielseitiger und bunter. In den Großstädten trifft dies zudem sicher noch sehr viel öfter zu als auf dem flachen Land. Werte, Normen und sexuelle Gewohnheiten von Menschen haben sich dennoch stark gewandelt. E-Dating, Internetforen und Dating-Apps sichern Frau und Mann jederzeit ein schnelles und anonymes Sex-Abenteuer, ganz ohne Aufregung vom Handy oder Tablet aus. Häufig verzichten die Partner während des sich daran anschließenden Treffens auf Kondome. Doch auch jene, die das Kondom zumindest vor dem Geschlechtsverkehr überziehen, gehen beim kondomlosen Oralverkehr oder anderen Spielvarianten menschlicher Sexualität – je nach Erreger – zum Teil hohe Infektionsrisiken ein.
Und wo stehen Sie selbst bei diesem Problem? Welchen Werten und Ansichten folgen Sie? Inwieweit können Sie damit überhaupt Ihre PatientInnen als sexuell aktive Individuen akzeptieren? Dies sind sehr bedeutende Fragen im Umgang mit Sexualität. Wir werten ständig und messen den anderen dabei an uns selbst und unseren Werte-Standards. Diesem Dilemma sehen sich aber beide Seiten in der Sexualanamnese ausgesetzt und genau das macht es am Ende auch so schwierig, darüber zu sprechen.
Für Ärztinnen und Ärzte bedeutet dies, dass sie versuchen sollten, sich freizumachen von den engen Vorstellungen rund um Sexualität und sich für die Sexualanamnese bei ihren Patienten selbst ein Stück weit zu öffnen. Eine freie und "tabulose" Kommunikation über Sexualität in der Praxis schafft den nötigen Freiraum, um Risikoverhalten zu erkennen und auf dessen Basis vor allem diejenigen Menschen zu identifizieren, die symptomlos infiziert sind. Denn es geht darum, Menschen mit STI frühzeitig diagnostizieren und therapieren zu können.
Tipp: PatientInnen, die mit einer sexuellen Problematik zu Ihnen kommen, möchten in der Regel von Ihrer Ärztin / Ihrem Arzt auf das Thema angesprochen werden. Helfen Sie deshalb Ihren PatientInnen mit zwei simplen, aber geschlossenen Fragen, die lediglich eine kurze ja/nein-Antwort erfordern. Damit öffnen Sie ihnen im Praxisalltag die Tür, um empathisch und vorurteilsfrei über das Thema Sexualität zu sprechen:
Sind Sie mit Ihrer Sexualität zufrieden?
Möchten Sie, dass sich etwas ändert?
Im weiteren Gesprächsverlauf können Sie dann auf offene Fragen umschwenken, sodass die PatientInnen frei zu erzählen beginnen, z. B. mit der Frage “Was müsste sich denn ändern, damit Sie zufriedener mit Ihrer Sexualität sind?” Hören Sie während der Antwortphasen stets aufmerksam zu und paraphrasieren Sie, um Ihr Verständnis abzusichern.
Besteht infolge der Anamnese dann tatsächlich ein begründeter Verdacht auf das Vorliegen eines STI-Infektionsrisikos (z. B. bei ChemSex, ungeschütztem Geschlechts- oder Analverkehr, häufig wechselnden Sexualpartnern, …) ist eine weitere Diagnostik erforderlich. Viele STI treten gemeinsam auf, weshalb Sie beispielsweise bei einem HIV- oder Syphilis-Verdacht ebenso auf Chlamydien, Gonokokken und Hepatitiden testen sollten.
Ganz allgemein gesagt, zielen Diagnostik und Therapie der STI in erster Linie darauf ab, eine möglichst frühe Diagnose und damit einhergehend eine schnelle Heilung bzw. Reduktion der Infektiosität der Erkrankten zu erreichen. Dadurch wird die Infektkette durchbrochen. Dennoch gilt es, ebenso das Risiko für Reinfektionen und Rezidive zu verringern. Dementsprechend kommt der Partnerbehandlung in der STI-Therapie eine sehr große Bedeutung zu.
Effektive und auf systemischer Ebene heilende Therapieansätze gibt es derzeit vor allem für bakteriell verursachte Infektionen sowie für die Trichomoniasis.3–5 Die viralen Infektionen, verursacht durch HIV, Herpes simplex-Viren oder Humane Papillomaviren, können bisher noch nicht kurativ behandelt werden, jedoch greift die Therapie hier krankheitsmodulierend ein.3–5 Einzige Ausnahme bei den viralen STI ist die Behandlung der Hepatitis C, welche dank der neuesten Medikamenten-Generation seit einigen Jahren mit deutlich besserer Rate kurativ therapiert werden kann.6
Vor jeder Therapieentscheidung stehen eine ausführliche Sexual-Anamnese sowie die geeignete Labordiagnostik. Besonders wichtig ist es für eine gelingende Sexualanamnese, die Sexualität in der Praxis ohne Wertung, empathisch und vorurteilsfrei anzusprechen. Ein paar Grundlagen, wie Sie dabei vorgehen können, haben Sie bereits kennengelernt.
Was Sie darüber hinaus bei der Diagnosestellung und anschließenden Behandlung der einzelnen STI alles beachten müssen, erfahren Sie im kommenden Blogbeitrag zur "Diagnostik und Therapie der Erkrankungen mit genitalen, analen, perianalen oder oralen Ulzerationen und/oder Tumoren". Es geht also in 14 Tagen dann in medias res, wofür ich wir mit Prof. Dr. med. Norbert H. Brockmeyer, dem Präsidenten der Deutschen STI-Gesellschaft (DSTIG), einen kompetenten Experten auf diesem Gebiet ins Boot holen werde.
Bleiben Sie gespannt und wir freuen uns auf ein Wiederlesen mit Ihnen. In der Zwischenzeit nutzen Sie bitte rege die Möglichkeit für Fragen und Kommentare sowie den gegenseitigen Austausch hier auf Ihrem Urologie-Blog.
Quellen:
1. Robert Koch-Institut. Infektionsepidemiologisches Jahrbuch meldepflichtiger Krankheiten für 2016, Berlin 2017
2. Robert-Koch-Institut. Bericht Gonokokken-Resistenz-Netzwerk (GORENET), Stand: Juli 2016
3. Organisation WH. Sexually transmitted infections (STIs). In; 2013. p. Fact Sheet N. 110
4. Brockmeyer NH. STI/STD: Beratung, Diagnostik und Therapie. In: AWMF, editor; 2014
5. Workowski KA, Bolan G. Sexually Transmitted Diseases Treatment Guidelines, 2014. In: Control CfD, editor; 2014
6. RKI. Hepatitis Ratgeber (Stand: 31.01.2018)